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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Julius Meters Musiker-LeriKon.

Allgemeines Künstler-Lexikon. Unter Mitwirkung der namhaftesten Fach¬
gelehrten des In- und Auslandes herausgeg. von Dr. Julius Meyer. (Zweite
gänzlich neubearbeitete Aufl. von Nagler'sKünstler-Lexikon.) Leipzig, W. Engelmann.

Man kann die historischen Studien unserer Tage häusig der UnProdukti¬
vität zeihen hören. Kritik und Compilation, klagt man, seien an Stelle
systematischer Thätigkeit getreten; es gibt deren genug, welche auf die nicht
ferne große Zeit bahnbrechender und problemstellender Arbeit im Bereich der
historischen Wissenschaften mit dem fröstelnden Gefühl zurückschauen, das uns
nach Ablauf eines gedeihlichen Sommers befällt. Vollends das Sammeln
und Zurechtlegen, Aufsummiren und Classificiren gilt Vielen als Zeichen
geistiger Alterschwäche. Indeß die Zeiten, in denen umfassende encyklo¬
pädische Werke, ausgedehnte Repertorien, überhaupt große Inventarien über
bestimmte Fächer entstanden sind, zeigen im Gegentheil, daß solcher Thätig¬
keit der Wissenschaft, sich ihres Erwerbes bewußt zu machen, aufstrebender
Trieb und der Muth zu neuen Anfängen zu Grunde liegt. Die Wissenschaft
stirbt nicht; sie macht derartige mühevolle Anstrengungen stets nur mit star¬
kem Lebensgefühl, denn wenn sie ihre Activa und Passiva prüft, so dient ihr
das in hohem Grade zur Abgrenzung und Verdeutlichung ihrer Aufgaben.
Und je eher eine Fachwissenschaft sich dieses Bedürfniß erfüllt, desto besser für
ihr Gedeihen, und desto besser auch für das Publikum, welches sich innerhalb
dieses Wissenskreises orientiren will.

Das obengenannte Werk, auf dessen Beginn wir die Aufmerksamkeit
unserer Leser lenken möchten, will diesen großen Dienst der modernen Kunst¬
wissenschaft leisten, der jüngsten und ihrem Gegenstande nach auch der schön¬
sten Tochter der historischen Disciplin. Sie kämpft den zünftigen Schwe¬
stern gegenüber zwar noch ziemlich ernsthaft um das Recht wissenschaftlicher
Ebenbürtigkeit, denn sie wird von den altehrwürdigen Musen gern über die
Achsel angesehen, und um die Ehre eines gesicherten Lehrstuhles auf den Uni¬
versitäten bemüht sie sich noch vergebens. Aber sie wird es über kurz oder lang
dazu bringen, -- das verbürgt u. a. auch das Werk, von dem wir hier reden.
Denn nur eine Disciplin, die sich als solche fühlt, besinnt sich zu so guter
Stunde auf Pflichten, wie die Julius Meyer's Künstlerlexicon zu erfüllen
unternimmt, und wenn die Studien über moderne Kunstgeschichte mit dem
Ernste fortarbeiten, den sie immer mehr und mehr annehmen, dann wird
ihnen so wenig wie der Archäologie, die auch erst in neuer Zeit dazu gelangt
ist. die Zunftwürde auf die Dauer vorzuenthalten sein. -- Die moderne
Kunstforschung hat den zweideutigen Vortheil genossen, schnell populär zu


Grenzboten I. 187V. 59
Julius Meters Musiker-LeriKon.

Allgemeines Künstler-Lexikon. Unter Mitwirkung der namhaftesten Fach¬
gelehrten des In- und Auslandes herausgeg. von Dr. Julius Meyer. (Zweite
gänzlich neubearbeitete Aufl. von Nagler'sKünstler-Lexikon.) Leipzig, W. Engelmann.

Man kann die historischen Studien unserer Tage häusig der UnProdukti¬
vität zeihen hören. Kritik und Compilation, klagt man, seien an Stelle
systematischer Thätigkeit getreten; es gibt deren genug, welche auf die nicht
ferne große Zeit bahnbrechender und problemstellender Arbeit im Bereich der
historischen Wissenschaften mit dem fröstelnden Gefühl zurückschauen, das uns
nach Ablauf eines gedeihlichen Sommers befällt. Vollends das Sammeln
und Zurechtlegen, Aufsummiren und Classificiren gilt Vielen als Zeichen
geistiger Alterschwäche. Indeß die Zeiten, in denen umfassende encyklo¬
pädische Werke, ausgedehnte Repertorien, überhaupt große Inventarien über
bestimmte Fächer entstanden sind, zeigen im Gegentheil, daß solcher Thätig¬
keit der Wissenschaft, sich ihres Erwerbes bewußt zu machen, aufstrebender
Trieb und der Muth zu neuen Anfängen zu Grunde liegt. Die Wissenschaft
stirbt nicht; sie macht derartige mühevolle Anstrengungen stets nur mit star¬
kem Lebensgefühl, denn wenn sie ihre Activa und Passiva prüft, so dient ihr
das in hohem Grade zur Abgrenzung und Verdeutlichung ihrer Aufgaben.
Und je eher eine Fachwissenschaft sich dieses Bedürfniß erfüllt, desto besser für
ihr Gedeihen, und desto besser auch für das Publikum, welches sich innerhalb
dieses Wissenskreises orientiren will.

Das obengenannte Werk, auf dessen Beginn wir die Aufmerksamkeit
unserer Leser lenken möchten, will diesen großen Dienst der modernen Kunst¬
wissenschaft leisten, der jüngsten und ihrem Gegenstande nach auch der schön¬
sten Tochter der historischen Disciplin. Sie kämpft den zünftigen Schwe¬
stern gegenüber zwar noch ziemlich ernsthaft um das Recht wissenschaftlicher
Ebenbürtigkeit, denn sie wird von den altehrwürdigen Musen gern über die
Achsel angesehen, und um die Ehre eines gesicherten Lehrstuhles auf den Uni¬
versitäten bemüht sie sich noch vergebens. Aber sie wird es über kurz oder lang
dazu bringen, — das verbürgt u. a. auch das Werk, von dem wir hier reden.
Denn nur eine Disciplin, die sich als solche fühlt, besinnt sich zu so guter
Stunde auf Pflichten, wie die Julius Meyer's Künstlerlexicon zu erfüllen
unternimmt, und wenn die Studien über moderne Kunstgeschichte mit dem
Ernste fortarbeiten, den sie immer mehr und mehr annehmen, dann wird
ihnen so wenig wie der Archäologie, die auch erst in neuer Zeit dazu gelangt
ist. die Zunftwürde auf die Dauer vorzuenthalten sein. — Die moderne
Kunstforschung hat den zweideutigen Vortheil genossen, schnell populär zu


Grenzboten I. 187V. 59
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[0471] Julius Meters Musiker-LeriKon. Allgemeines Künstler-Lexikon. Unter Mitwirkung der namhaftesten Fach¬ gelehrten des In- und Auslandes herausgeg. von Dr. Julius Meyer. (Zweite gänzlich neubearbeitete Aufl. von Nagler'sKünstler-Lexikon.) Leipzig, W. Engelmann. Man kann die historischen Studien unserer Tage häusig der UnProdukti¬ vität zeihen hören. Kritik und Compilation, klagt man, seien an Stelle systematischer Thätigkeit getreten; es gibt deren genug, welche auf die nicht ferne große Zeit bahnbrechender und problemstellender Arbeit im Bereich der historischen Wissenschaften mit dem fröstelnden Gefühl zurückschauen, das uns nach Ablauf eines gedeihlichen Sommers befällt. Vollends das Sammeln und Zurechtlegen, Aufsummiren und Classificiren gilt Vielen als Zeichen geistiger Alterschwäche. Indeß die Zeiten, in denen umfassende encyklo¬ pädische Werke, ausgedehnte Repertorien, überhaupt große Inventarien über bestimmte Fächer entstanden sind, zeigen im Gegentheil, daß solcher Thätig¬ keit der Wissenschaft, sich ihres Erwerbes bewußt zu machen, aufstrebender Trieb und der Muth zu neuen Anfängen zu Grunde liegt. Die Wissenschaft stirbt nicht; sie macht derartige mühevolle Anstrengungen stets nur mit star¬ kem Lebensgefühl, denn wenn sie ihre Activa und Passiva prüft, so dient ihr das in hohem Grade zur Abgrenzung und Verdeutlichung ihrer Aufgaben. Und je eher eine Fachwissenschaft sich dieses Bedürfniß erfüllt, desto besser für ihr Gedeihen, und desto besser auch für das Publikum, welches sich innerhalb dieses Wissenskreises orientiren will. Das obengenannte Werk, auf dessen Beginn wir die Aufmerksamkeit unserer Leser lenken möchten, will diesen großen Dienst der modernen Kunst¬ wissenschaft leisten, der jüngsten und ihrem Gegenstande nach auch der schön¬ sten Tochter der historischen Disciplin. Sie kämpft den zünftigen Schwe¬ stern gegenüber zwar noch ziemlich ernsthaft um das Recht wissenschaftlicher Ebenbürtigkeit, denn sie wird von den altehrwürdigen Musen gern über die Achsel angesehen, und um die Ehre eines gesicherten Lehrstuhles auf den Uni¬ versitäten bemüht sie sich noch vergebens. Aber sie wird es über kurz oder lang dazu bringen, — das verbürgt u. a. auch das Werk, von dem wir hier reden. Denn nur eine Disciplin, die sich als solche fühlt, besinnt sich zu so guter Stunde auf Pflichten, wie die Julius Meyer's Künstlerlexicon zu erfüllen unternimmt, und wenn die Studien über moderne Kunstgeschichte mit dem Ernste fortarbeiten, den sie immer mehr und mehr annehmen, dann wird ihnen so wenig wie der Archäologie, die auch erst in neuer Zeit dazu gelangt ist. die Zunftwürde auf die Dauer vorzuenthalten sein. — Die moderne Kunstforschung hat den zweideutigen Vortheil genossen, schnell populär zu Grenzboten I. 187V. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/471>, abgerufen am 26.06.2024.