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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Aus Deutsch^Oestreich.

Seit einigen Wochen genießt Wien das Schauspiel eines ersten Versuchs,
die socialistischen Lehren, welche fremde Agitatoren und einheimische confuse
Köpfe zwei Jahre hindurch den Arbeitern vorgetragen haben, praktisch zu
machen. Neun Zehntel der Schriftsetzer feiern, da die Druckereibesitzer ihre
Forderungen nicht bewilligt haben; die Zeitungen erscheinen in äußerst ge¬
drängter Form und die Zeitungseigenthümer und Redacteure wissen nicht
recht, welches Gesicht sie zu der Erfahrung machen sollen, daß die Zeitungs¬
leser im Allgemeinen mit dieser Neuerung ganz zufrieden sind. Die Abon¬
nentenjagd der großen Blätter hatte allgemach eine derartige Anhäufung des
Lesestoffs zur Folge, daß nur noch müßige Leute sich durch denselben durch¬
zuarbeiten vermochten und diese werden freilich den Abgang der hundert
nichtigen Dinge, Klatschereien und scandalösen, welche ihnen früher auf¬
getischt wurden, schmerzlich vermissen, während die Beschäftigten froh sind,
jetzt das Essentielle kurz und knapp zu erhalten. In dieser Richtung kann
der Strike möglicherweise günstige Folge haben. Das Produciren weit über
das Bedürfniß hinaus hat die politische Bildung nicht im mindesten geför¬
dert, dafür aber das Berufslitteratenthum in einem entsetzlichen Grade um
sich greifen lassen. Sind die Redactionen verständig, benutzen sie die gegen¬
wärtige Erfahrung, so wird mancher von den Herren "von der öffentlichen
Meinung" es angemessen finden, sich nach einem anderen einträglichen Hand¬
werk umzuthun, und dabei könnte das Ganze nur gewinnen. Auch daß die
Journalistik lernt, sich nicht für so unentbehrlich zu halten, wie bisher, mag
nicht als ein Schade betrachtet werden. -- Und diese Lehre kann ihr, wie die
Dinge jetzt liegen, ziemlich empfindlich ertheilt werden. Die Bedingungen
der Setzer waren unannehmbar, das liegt außerhalb des Streits. Sie ver¬
langten nicht allein Lohnaufbesserung, die bei der großen Theuerung nicht
mehr als billig wäre, sondern gleichzeitig noch kürzere Arbeitszeit, verschie¬
dene schwer durchzuführende Vergünstigungen und die principielle Anerkennung
ihres Anspruchs auf Antheil am Unternehmergewinn. Denn darauf kommt
es doch hinaus, wenn sie eine Tantieme von dem Ertrage jener Inserate
fordern, welche einmal gesetzt, aber mehrmals, oft jahrein, jahraus immer
wieder abgedruckt werden. Diese Forderung können die Arbeitgeber nicht
zugestehen, wenn sie nicht ein gefährliches Präcedens schaffen wollen; die Füh¬
rer der Arbeiter sind aber gerade aus diesen Punkt versessen und sie scheinen
Mittel genug von ausländischen Arbeitercoalitionen zu erhalten, um den
Widerstand noch längere Zeit fortsetzen zu können. Der März ist aber der


Aus Deutsch^Oestreich.

Seit einigen Wochen genießt Wien das Schauspiel eines ersten Versuchs,
die socialistischen Lehren, welche fremde Agitatoren und einheimische confuse
Köpfe zwei Jahre hindurch den Arbeitern vorgetragen haben, praktisch zu
machen. Neun Zehntel der Schriftsetzer feiern, da die Druckereibesitzer ihre
Forderungen nicht bewilligt haben; die Zeitungen erscheinen in äußerst ge¬
drängter Form und die Zeitungseigenthümer und Redacteure wissen nicht
recht, welches Gesicht sie zu der Erfahrung machen sollen, daß die Zeitungs¬
leser im Allgemeinen mit dieser Neuerung ganz zufrieden sind. Die Abon¬
nentenjagd der großen Blätter hatte allgemach eine derartige Anhäufung des
Lesestoffs zur Folge, daß nur noch müßige Leute sich durch denselben durch¬
zuarbeiten vermochten und diese werden freilich den Abgang der hundert
nichtigen Dinge, Klatschereien und scandalösen, welche ihnen früher auf¬
getischt wurden, schmerzlich vermissen, während die Beschäftigten froh sind,
jetzt das Essentielle kurz und knapp zu erhalten. In dieser Richtung kann
der Strike möglicherweise günstige Folge haben. Das Produciren weit über
das Bedürfniß hinaus hat die politische Bildung nicht im mindesten geför¬
dert, dafür aber das Berufslitteratenthum in einem entsetzlichen Grade um
sich greifen lassen. Sind die Redactionen verständig, benutzen sie die gegen¬
wärtige Erfahrung, so wird mancher von den Herren „von der öffentlichen
Meinung" es angemessen finden, sich nach einem anderen einträglichen Hand¬
werk umzuthun, und dabei könnte das Ganze nur gewinnen. Auch daß die
Journalistik lernt, sich nicht für so unentbehrlich zu halten, wie bisher, mag
nicht als ein Schade betrachtet werden. — Und diese Lehre kann ihr, wie die
Dinge jetzt liegen, ziemlich empfindlich ertheilt werden. Die Bedingungen
der Setzer waren unannehmbar, das liegt außerhalb des Streits. Sie ver¬
langten nicht allein Lohnaufbesserung, die bei der großen Theuerung nicht
mehr als billig wäre, sondern gleichzeitig noch kürzere Arbeitszeit, verschie¬
dene schwer durchzuführende Vergünstigungen und die principielle Anerkennung
ihres Anspruchs auf Antheil am Unternehmergewinn. Denn darauf kommt
es doch hinaus, wenn sie eine Tantieme von dem Ertrage jener Inserate
fordern, welche einmal gesetzt, aber mehrmals, oft jahrein, jahraus immer
wieder abgedruckt werden. Diese Forderung können die Arbeitgeber nicht
zugestehen, wenn sie nicht ein gefährliches Präcedens schaffen wollen; die Füh¬
rer der Arbeiter sind aber gerade aus diesen Punkt versessen und sie scheinen
Mittel genug von ausländischen Arbeitercoalitionen zu erhalten, um den
Widerstand noch längere Zeit fortsetzen zu können. Der März ist aber der


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[0461] Aus Deutsch^Oestreich. Seit einigen Wochen genießt Wien das Schauspiel eines ersten Versuchs, die socialistischen Lehren, welche fremde Agitatoren und einheimische confuse Köpfe zwei Jahre hindurch den Arbeitern vorgetragen haben, praktisch zu machen. Neun Zehntel der Schriftsetzer feiern, da die Druckereibesitzer ihre Forderungen nicht bewilligt haben; die Zeitungen erscheinen in äußerst ge¬ drängter Form und die Zeitungseigenthümer und Redacteure wissen nicht recht, welches Gesicht sie zu der Erfahrung machen sollen, daß die Zeitungs¬ leser im Allgemeinen mit dieser Neuerung ganz zufrieden sind. Die Abon¬ nentenjagd der großen Blätter hatte allgemach eine derartige Anhäufung des Lesestoffs zur Folge, daß nur noch müßige Leute sich durch denselben durch¬ zuarbeiten vermochten und diese werden freilich den Abgang der hundert nichtigen Dinge, Klatschereien und scandalösen, welche ihnen früher auf¬ getischt wurden, schmerzlich vermissen, während die Beschäftigten froh sind, jetzt das Essentielle kurz und knapp zu erhalten. In dieser Richtung kann der Strike möglicherweise günstige Folge haben. Das Produciren weit über das Bedürfniß hinaus hat die politische Bildung nicht im mindesten geför¬ dert, dafür aber das Berufslitteratenthum in einem entsetzlichen Grade um sich greifen lassen. Sind die Redactionen verständig, benutzen sie die gegen¬ wärtige Erfahrung, so wird mancher von den Herren „von der öffentlichen Meinung" es angemessen finden, sich nach einem anderen einträglichen Hand¬ werk umzuthun, und dabei könnte das Ganze nur gewinnen. Auch daß die Journalistik lernt, sich nicht für so unentbehrlich zu halten, wie bisher, mag nicht als ein Schade betrachtet werden. — Und diese Lehre kann ihr, wie die Dinge jetzt liegen, ziemlich empfindlich ertheilt werden. Die Bedingungen der Setzer waren unannehmbar, das liegt außerhalb des Streits. Sie ver¬ langten nicht allein Lohnaufbesserung, die bei der großen Theuerung nicht mehr als billig wäre, sondern gleichzeitig noch kürzere Arbeitszeit, verschie¬ dene schwer durchzuführende Vergünstigungen und die principielle Anerkennung ihres Anspruchs auf Antheil am Unternehmergewinn. Denn darauf kommt es doch hinaus, wenn sie eine Tantieme von dem Ertrage jener Inserate fordern, welche einmal gesetzt, aber mehrmals, oft jahrein, jahraus immer wieder abgedruckt werden. Diese Forderung können die Arbeitgeber nicht zugestehen, wenn sie nicht ein gefährliches Präcedens schaffen wollen; die Füh¬ rer der Arbeiter sind aber gerade aus diesen Punkt versessen und sie scheinen Mittel genug von ausländischen Arbeitercoalitionen zu erhalten, um den Widerstand noch längere Zeit fortsetzen zu können. Der März ist aber der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/461>, abgerufen am 26.06.2024.