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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Der Protestantismus im heutigen Frankreich.

Das allgemeine Stimmrecht, das von sechs zu sechs Jahren ganz Frank¬
reich in Bewegung setzt, functionirt in diesem Lande auch auf dem Gebiet
der reformirten Kirche, und zwar ist dieses kirchliche Stimmrecht genau so
alt wie das politische. Die demokratische Verfassung, die sich von den Ge¬
meinden aus aufbaut, ist zwar eine alte Tradition der Hugenottenkirche, in
ihrer jetzigen Gestalt stammt sie aber aus dem Jahr 1852, das nach langen
Zeiten der Rechtlosigkeit oder der Reglementirung der reformirten Kirche
erst wieder ihre Selbständigkeit zurückgegeben hat. Aus den ollgemeinen
Wahlen, die alle drei Jahre stattfinden, gehen die Presbyterialräthe und die
Consistorien hervor und diesen stehen wiederum die Wahlen der Geistlichen sowie
der Professoren an den nationalkirchlichen Facultäten zu. Der Staat wahrt
sich in dem sogenannten Centralrath blos ein Oberaufsichtsrecht, ohne sich in
die inneren Angelegenheiten der Kirche zu mischen. Diese entbehrt somit
einer eigentlichen Centralbehörde; die Consistorien, deren es über hundert
sind, stehen unter sich in keinem äußeren Verband, man redet deshalb im
officiellen Sprachgebrauch nicht von der reformirten Kirche, sondern von den
reformirten Kirchen Frankreichs, und da der Schlußstein der Verfassung,
nämlich die große Synode, der allein das Gesetzgebungsrecht und die Ent¬
scheidung in dogmatischen und liturgischen Fragen zustünde, bis jetzt ebenso
fehlt, wie die Provinzialsynoden. so ist der reformirten Kirche in Frankreich
eine Freiheit der Bewegung eigen, die in demselben Maße nur etwa noch
in einigen Schweizer Cantonen vorhanden ist und der öffentlichen Meinung
ungehinderter als irgendwo Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen
Lebens sichert.

Die kirchlichen Richtungen, in welche der französische Protestantismus
der Gegenwart auseinandergeht, sind dieselben, wie sie überall theils aus
dem Umschwung des modernen Bewußtseins, theils aus der Bewegung der
theologischen Wissenschaft sich entwickelt haben. Im Anfang dieses Jahr.
Hunderts herrschte auch dort ein mehr oder weniger flacher Rationalismus in


"Prenzboten III. 1869. 11
Der Protestantismus im heutigen Frankreich.

Das allgemeine Stimmrecht, das von sechs zu sechs Jahren ganz Frank¬
reich in Bewegung setzt, functionirt in diesem Lande auch auf dem Gebiet
der reformirten Kirche, und zwar ist dieses kirchliche Stimmrecht genau so
alt wie das politische. Die demokratische Verfassung, die sich von den Ge¬
meinden aus aufbaut, ist zwar eine alte Tradition der Hugenottenkirche, in
ihrer jetzigen Gestalt stammt sie aber aus dem Jahr 1852, das nach langen
Zeiten der Rechtlosigkeit oder der Reglementirung der reformirten Kirche
erst wieder ihre Selbständigkeit zurückgegeben hat. Aus den ollgemeinen
Wahlen, die alle drei Jahre stattfinden, gehen die Presbyterialräthe und die
Consistorien hervor und diesen stehen wiederum die Wahlen der Geistlichen sowie
der Professoren an den nationalkirchlichen Facultäten zu. Der Staat wahrt
sich in dem sogenannten Centralrath blos ein Oberaufsichtsrecht, ohne sich in
die inneren Angelegenheiten der Kirche zu mischen. Diese entbehrt somit
einer eigentlichen Centralbehörde; die Consistorien, deren es über hundert
sind, stehen unter sich in keinem äußeren Verband, man redet deshalb im
officiellen Sprachgebrauch nicht von der reformirten Kirche, sondern von den
reformirten Kirchen Frankreichs, und da der Schlußstein der Verfassung,
nämlich die große Synode, der allein das Gesetzgebungsrecht und die Ent¬
scheidung in dogmatischen und liturgischen Fragen zustünde, bis jetzt ebenso
fehlt, wie die Provinzialsynoden. so ist der reformirten Kirche in Frankreich
eine Freiheit der Bewegung eigen, die in demselben Maße nur etwa noch
in einigen Schweizer Cantonen vorhanden ist und der öffentlichen Meinung
ungehinderter als irgendwo Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen
Lebens sichert.

Die kirchlichen Richtungen, in welche der französische Protestantismus
der Gegenwart auseinandergeht, sind dieselben, wie sie überall theils aus
dem Umschwung des modernen Bewußtseins, theils aus der Bewegung der
theologischen Wissenschaft sich entwickelt haben. Im Anfang dieses Jahr.
Hunderts herrschte auch dort ein mehr oder weniger flacher Rationalismus in


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[0089] Der Protestantismus im heutigen Frankreich. Das allgemeine Stimmrecht, das von sechs zu sechs Jahren ganz Frank¬ reich in Bewegung setzt, functionirt in diesem Lande auch auf dem Gebiet der reformirten Kirche, und zwar ist dieses kirchliche Stimmrecht genau so alt wie das politische. Die demokratische Verfassung, die sich von den Ge¬ meinden aus aufbaut, ist zwar eine alte Tradition der Hugenottenkirche, in ihrer jetzigen Gestalt stammt sie aber aus dem Jahr 1852, das nach langen Zeiten der Rechtlosigkeit oder der Reglementirung der reformirten Kirche erst wieder ihre Selbständigkeit zurückgegeben hat. Aus den ollgemeinen Wahlen, die alle drei Jahre stattfinden, gehen die Presbyterialräthe und die Consistorien hervor und diesen stehen wiederum die Wahlen der Geistlichen sowie der Professoren an den nationalkirchlichen Facultäten zu. Der Staat wahrt sich in dem sogenannten Centralrath blos ein Oberaufsichtsrecht, ohne sich in die inneren Angelegenheiten der Kirche zu mischen. Diese entbehrt somit einer eigentlichen Centralbehörde; die Consistorien, deren es über hundert sind, stehen unter sich in keinem äußeren Verband, man redet deshalb im officiellen Sprachgebrauch nicht von der reformirten Kirche, sondern von den reformirten Kirchen Frankreichs, und da der Schlußstein der Verfassung, nämlich die große Synode, der allein das Gesetzgebungsrecht und die Ent¬ scheidung in dogmatischen und liturgischen Fragen zustünde, bis jetzt ebenso fehlt, wie die Provinzialsynoden. so ist der reformirten Kirche in Frankreich eine Freiheit der Bewegung eigen, die in demselben Maße nur etwa noch in einigen Schweizer Cantonen vorhanden ist und der öffentlichen Meinung ungehinderter als irgendwo Einfluß auf die Gestaltung des kirchlichen Lebens sichert. Die kirchlichen Richtungen, in welche der französische Protestantismus der Gegenwart auseinandergeht, sind dieselben, wie sie überall theils aus dem Umschwung des modernen Bewußtseins, theils aus der Bewegung der theologischen Wissenschaft sich entwickelt haben. Im Anfang dieses Jahr. Hunderts herrschte auch dort ein mehr oder weniger flacher Rationalismus in «Prenzboten III. 1869. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/89>, abgerufen am 22.07.2024.