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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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holt, die auch zu ihrer Fundirung gleichsam einer neuen verhärteten Dogmatik
bedürfte, und zwar genau dieselben Grunddogmen wieder hervorsuchte, auf
die Paulus sein Evangelium gestützt hatte. Diese Erneuerung des Pauli¬
nismus in der Reformation gibt auch Renan zu denken, wie ihm die Cha¬
rakterverwandtschaft des Paulus mit Luther nicht entgeht. Allein er zieht
die Parallele nur, um beide gleichmäßig seine Ungnade fühlen zu lassen.
"Paulus als der in jeder Beziehung erste Vorgänger des Protestantismus,
besitzt die Fehler eines Protestanten: lange Zeit und Erfahrung gehört dazu,
um zur Erkenntniß zu gelangen, daß kein Dogma die Mühe offenen Wider¬
standes, Verletzung der Liebe lohnt." Hätte Renan im 16. Jahrhundert ge¬
lebt, er wäre nicht über die Linie des Erasmus hinausgegangen. Derselbe
Freisinn, dasselbe vornehme Lächeln, dieselbe Antipathie gegen die energische
That. -- Nehmen wir Alles in Allem, so ist Renan eines der interessantesten
Beispiele für jenen Mangel an geschichtlichem Sinn, der sast überall da un¬
vermeidlich scheint, wo der Sprung aus dem Katholicismus unmittelbar in
die moderne Aufklärung gemacht wird. Auch dem ausbündigsten Liberalis¬
mus hängt noch ein katholisches Zöpfchen an. Der beständige Rückfall in
die kirchliche Tradition, die Neigung zu dem Legendarischen ist hierfür nicht
minder bezeichnend als die Abneigung gegen Charaktere wie Paulus und
Luther. Schließlich wird man den Zusammenhang nicht verkennen können,
in welchem die ganze Richtung Renans mit dem Geist der heutigen franzö¬
sischen Gesellschaft steht. Dieser abstracte humanitäre Idealismus, diese Ab¬
kehr von der Energie der That, diese Leidenschaft für das Mittelmäßige, --
sind sie nicht Symptome des öffentlichen Geistes in Frankreich?


L.


Der Herzog von Luxnes.^)

Es gibt Männer, deren Wirksamkeit, ohne mit ausfallenden und in die
Augen stechenden Thaten nach außen zu treten, doch eine heilsame und frucht¬
bare ist, die selbst nie berühmt geworden sind, undnichts desto weniger zu den



*) Obgleich der verdienstvolle Mann, dessen Andenken diese Blätter gewidmet sind, schon
vor längerer Zeit verstorben ist, haben wir den nachstehenden Erinnerungen an denselben in
Die Red. den Grenzboten noch gegenwärtig einen Platz anweisen zu müssen geglaubt.

holt, die auch zu ihrer Fundirung gleichsam einer neuen verhärteten Dogmatik
bedürfte, und zwar genau dieselben Grunddogmen wieder hervorsuchte, auf
die Paulus sein Evangelium gestützt hatte. Diese Erneuerung des Pauli¬
nismus in der Reformation gibt auch Renan zu denken, wie ihm die Cha¬
rakterverwandtschaft des Paulus mit Luther nicht entgeht. Allein er zieht
die Parallele nur, um beide gleichmäßig seine Ungnade fühlen zu lassen.
„Paulus als der in jeder Beziehung erste Vorgänger des Protestantismus,
besitzt die Fehler eines Protestanten: lange Zeit und Erfahrung gehört dazu,
um zur Erkenntniß zu gelangen, daß kein Dogma die Mühe offenen Wider¬
standes, Verletzung der Liebe lohnt." Hätte Renan im 16. Jahrhundert ge¬
lebt, er wäre nicht über die Linie des Erasmus hinausgegangen. Derselbe
Freisinn, dasselbe vornehme Lächeln, dieselbe Antipathie gegen die energische
That. — Nehmen wir Alles in Allem, so ist Renan eines der interessantesten
Beispiele für jenen Mangel an geschichtlichem Sinn, der sast überall da un¬
vermeidlich scheint, wo der Sprung aus dem Katholicismus unmittelbar in
die moderne Aufklärung gemacht wird. Auch dem ausbündigsten Liberalis¬
mus hängt noch ein katholisches Zöpfchen an. Der beständige Rückfall in
die kirchliche Tradition, die Neigung zu dem Legendarischen ist hierfür nicht
minder bezeichnend als die Abneigung gegen Charaktere wie Paulus und
Luther. Schließlich wird man den Zusammenhang nicht verkennen können,
in welchem die ganze Richtung Renans mit dem Geist der heutigen franzö¬
sischen Gesellschaft steht. Dieser abstracte humanitäre Idealismus, diese Ab¬
kehr von der Energie der That, diese Leidenschaft für das Mittelmäßige, —
sind sie nicht Symptome des öffentlichen Geistes in Frankreich?


L.


Der Herzog von Luxnes.^)

Es gibt Männer, deren Wirksamkeit, ohne mit ausfallenden und in die
Augen stechenden Thaten nach außen zu treten, doch eine heilsame und frucht¬
bare ist, die selbst nie berühmt geworden sind, undnichts desto weniger zu den



*) Obgleich der verdienstvolle Mann, dessen Andenken diese Blätter gewidmet sind, schon
vor längerer Zeit verstorben ist, haben wir den nachstehenden Erinnerungen an denselben in
Die Red. den Grenzboten noch gegenwärtig einen Platz anweisen zu müssen geglaubt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/460>, abgerufen am 28.06.2024.