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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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wo nicht gänzlich zu tilgen vermag. Van Lerius hat unter dem Titel
"lieber sterben" eine Episode dargestellt, die dem Kostüm nach etwa in die
Zeit des niederländischen Befreiungskrieges gehört: von etlichen wüsten
Söldnern verfolgt hat sich ein schönes junges Weib in die höchste Dachkammer
des Hauses geflüchtet; mit einem Bettlaken deckt sie die Blöse kaum (denn
sie ist, freilich ohne ganz verständlichen Grund, völlig nackt), ist auf den Stuhl
am offenen Fenster gesprungen und eben im Begriff, sich auf die Straße
hinabzustürzen, auf der man im fahlem Morgenlichte die Plünderung wüthen
sieht. Die eindringenden Landsknechte, deren Jeder dem anderen die Beute
mißgönnt und das holde Geschöpf in seiner Todesangst, wie sie die eine
Hand mit dem Tuche krampfhaft auf den Busen drückt und mit der andern
sich an die Stirn faßt, den letzten Blick himmelwärts gewandt, sind tief er¬
greifende Gegensätze. Es ist etwas von der Poesie der Volksbücher in dieser
Composition, und was das Motiv an Härte zu viel hat, sucht die wun¬
dervolle Harmonie des Farbentones auszugleichen. Denn wir haben es
hier mit einer coloristischen Leistung ersten Ranges zu thun. In Anlehnung
an seine Landsleute, die im 16. Jahrhundert in Italien malen lernten, gibt
uns Lerius ein stilvolles Colorit zu sehen von einer Wärme, Geschmeidig¬
keit und Fülle, die schlechthin meisterhaft zu nennen sind. An adeliger
Herbigkeit der Zeichnung und Sauberkeit der Behandlung (das Bild ist auf
Holz gemalt) steht ihm Nichts in der ganzen Ausstellung gleich.

Der Geschichtsmalerei und des Genres gedenken wir später noch
.
M. I. 15. August.




Die piemontesische Politik in den Jahren 1847--1360.*)
II.

Die Verhandlungen unter den italienischen Staaten wegen einer Con-
söderation wurden Anfangs August nach den Unglücksschlägen in der lom¬
bardischen Ebene wieder aufgenommen. Das Ministerium Casati, in welchem
Pareto das Auswärtige beibehalten hatte und Vincenz Gioberti, der erste
Urheber der Conföderationsidee, als Minister ohne Portefeuille, dann als
Unterrichtsminister saß, machte den Vorschlag, in Rom Verhandlungen wegen
eines Bundes zu eröffnen. Piemont war über die Stärke seiner eigenen
Streitkräfte belehrt, es wußte, daß es im Ausland keine Hilfe finde, es galt
nun einen letzten Versuch zu machen, die anderen Staaten zu einer organi-
sirten Mitwirkung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen. Denn dar¬
auf hatte es Piemont wiederum in erster Linie abgesehen. Die Jnstructio-
nen für den Abbate Rosmini, der als außerordentlicher Gesandter nach Rom



") Vrgl, Ur, 34 der Grenzboten-
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wo nicht gänzlich zu tilgen vermag. Van Lerius hat unter dem Titel
„lieber sterben" eine Episode dargestellt, die dem Kostüm nach etwa in die
Zeit des niederländischen Befreiungskrieges gehört: von etlichen wüsten
Söldnern verfolgt hat sich ein schönes junges Weib in die höchste Dachkammer
des Hauses geflüchtet; mit einem Bettlaken deckt sie die Blöse kaum (denn
sie ist, freilich ohne ganz verständlichen Grund, völlig nackt), ist auf den Stuhl
am offenen Fenster gesprungen und eben im Begriff, sich auf die Straße
hinabzustürzen, auf der man im fahlem Morgenlichte die Plünderung wüthen
sieht. Die eindringenden Landsknechte, deren Jeder dem anderen die Beute
mißgönnt und das holde Geschöpf in seiner Todesangst, wie sie die eine
Hand mit dem Tuche krampfhaft auf den Busen drückt und mit der andern
sich an die Stirn faßt, den letzten Blick himmelwärts gewandt, sind tief er¬
greifende Gegensätze. Es ist etwas von der Poesie der Volksbücher in dieser
Composition, und was das Motiv an Härte zu viel hat, sucht die wun¬
dervolle Harmonie des Farbentones auszugleichen. Denn wir haben es
hier mit einer coloristischen Leistung ersten Ranges zu thun. In Anlehnung
an seine Landsleute, die im 16. Jahrhundert in Italien malen lernten, gibt
uns Lerius ein stilvolles Colorit zu sehen von einer Wärme, Geschmeidig¬
keit und Fülle, die schlechthin meisterhaft zu nennen sind. An adeliger
Herbigkeit der Zeichnung und Sauberkeit der Behandlung (das Bild ist auf
Holz gemalt) steht ihm Nichts in der ganzen Ausstellung gleich.

Der Geschichtsmalerei und des Genres gedenken wir später noch
.
M. I. 15. August.




Die piemontesische Politik in den Jahren 1847—1360.*)
II.

Die Verhandlungen unter den italienischen Staaten wegen einer Con-
söderation wurden Anfangs August nach den Unglücksschlägen in der lom¬
bardischen Ebene wieder aufgenommen. Das Ministerium Casati, in welchem
Pareto das Auswärtige beibehalten hatte und Vincenz Gioberti, der erste
Urheber der Conföderationsidee, als Minister ohne Portefeuille, dann als
Unterrichtsminister saß, machte den Vorschlag, in Rom Verhandlungen wegen
eines Bundes zu eröffnen. Piemont war über die Stärke seiner eigenen
Streitkräfte belehrt, es wußte, daß es im Ausland keine Hilfe finde, es galt
nun einen letzten Versuch zu machen, die anderen Staaten zu einer organi-
sirten Mitwirkung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen. Denn dar¬
auf hatte es Piemont wiederum in erster Linie abgesehen. Die Jnstructio-
nen für den Abbate Rosmini, der als außerordentlicher Gesandter nach Rom



") Vrgl, Ur, 34 der Grenzboten-
47*
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[0379] wo nicht gänzlich zu tilgen vermag. Van Lerius hat unter dem Titel „lieber sterben" eine Episode dargestellt, die dem Kostüm nach etwa in die Zeit des niederländischen Befreiungskrieges gehört: von etlichen wüsten Söldnern verfolgt hat sich ein schönes junges Weib in die höchste Dachkammer des Hauses geflüchtet; mit einem Bettlaken deckt sie die Blöse kaum (denn sie ist, freilich ohne ganz verständlichen Grund, völlig nackt), ist auf den Stuhl am offenen Fenster gesprungen und eben im Begriff, sich auf die Straße hinabzustürzen, auf der man im fahlem Morgenlichte die Plünderung wüthen sieht. Die eindringenden Landsknechte, deren Jeder dem anderen die Beute mißgönnt und das holde Geschöpf in seiner Todesangst, wie sie die eine Hand mit dem Tuche krampfhaft auf den Busen drückt und mit der andern sich an die Stirn faßt, den letzten Blick himmelwärts gewandt, sind tief er¬ greifende Gegensätze. Es ist etwas von der Poesie der Volksbücher in dieser Composition, und was das Motiv an Härte zu viel hat, sucht die wun¬ dervolle Harmonie des Farbentones auszugleichen. Denn wir haben es hier mit einer coloristischen Leistung ersten Ranges zu thun. In Anlehnung an seine Landsleute, die im 16. Jahrhundert in Italien malen lernten, gibt uns Lerius ein stilvolles Colorit zu sehen von einer Wärme, Geschmeidig¬ keit und Fülle, die schlechthin meisterhaft zu nennen sind. An adeliger Herbigkeit der Zeichnung und Sauberkeit der Behandlung (das Bild ist auf Holz gemalt) steht ihm Nichts in der ganzen Ausstellung gleich. Der Geschichtsmalerei und des Genres gedenken wir später noch . M. I. 15. August. Die piemontesische Politik in den Jahren 1847—1360.*) II. Die Verhandlungen unter den italienischen Staaten wegen einer Con- söderation wurden Anfangs August nach den Unglücksschlägen in der lom¬ bardischen Ebene wieder aufgenommen. Das Ministerium Casati, in welchem Pareto das Auswärtige beibehalten hatte und Vincenz Gioberti, der erste Urheber der Conföderationsidee, als Minister ohne Portefeuille, dann als Unterrichtsminister saß, machte den Vorschlag, in Rom Verhandlungen wegen eines Bundes zu eröffnen. Piemont war über die Stärke seiner eigenen Streitkräfte belehrt, es wußte, daß es im Ausland keine Hilfe finde, es galt nun einen letzten Versuch zu machen, die anderen Staaten zu einer organi- sirten Mitwirkung für die Fortsetzung des Krieges zu gewinnen. Denn dar¬ auf hatte es Piemont wiederum in erster Linie abgesehen. Die Jnstructio- nen für den Abbate Rosmini, der als außerordentlicher Gesandter nach Rom ") Vrgl, Ur, 34 der Grenzboten- 47*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/379>, abgerufen am 28.06.2024.