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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Aus einem englischen Notizbuch.
1. Das Haus zum Löwen und Einhorn in der City.

Im Herzen der City von London, gleich weit ungefähr vom Tower und
vom Temple Bar, steht ein alterthümliches Haus, der graue Hof genannt
oder zum Löwen und Einhorn. Lieblich und rein ist das Ale da, auch der
braune Porter in seiner Schaumperücke ist ohne Falsch, und was die Ge¬
selligkeit betrifft, so herrscht unter dem grauen Dache zuweilen noch ein so
munteres Treiben, wie es im heutigen London nicht allenthalben vorkommt.
Aber nur zuweilen, denn Vieles hat sich ringsum geändert, seit der Gro߬
vater die Großmutter nahm. Reichthum und Prunk sind sehr gestiegen, Ge-
sammtlondon ist zum Erschrecken gewachsen und manche Gewohnheit der Vor¬
eltern geschwunden. Die Sehnsucht nach frischer Luft und wohl auch der
steigende Werth altstädtischen Grund und Bodens haben zur Scheidung
zwischen Wohn - und Werkstatt geführt. Von den Hunderttausenden emsiger
Seelen, welche die City bei Tage mit Gedräng und Gebraus erfüllen, schläft
die Mehrzahl "weit von ihrem Brot." Wenn auch allabendliche Herdfeuer
in der Altstadt glimmen, so gilt dies zumeist von jenen Quartieren, wo die
Straßen noch nicht ganz mit Gold gepflastert sind; aus den stolzerem Thei¬
len ist die Familie längst ausgewandert, um für Waarenläden, Wechselstuben
und andere Bienenzellen Platz zu machen. Die Metropole setzt aber fort¬
während neue Ringe an, der grüne Nundsaum der Vorstädte mit den "Hütten"
(eotwMs) der achtbaren Leute rückt immer weiter ins Land hinaus, während
die alten, von Sir Christopher Wren entworfenen Citywege seit zwei Jahr¬
hunderten sich nirgendswo merklich erweitert haben. Der Leib wird zu voll¬
blütig für seine Blutgesäße und das Gedränge nimmt ewig zu. Daher
klagen die Graubärte in Gog und Magog's Reich über Mangel an Ruhe und
Frieden; sie könnten kaum mehr ein richtiges Mittagsschläfchen halten, kaum
ohne Gefahr und Beschwerde einen Gevatter besuchen, und man komme
leichter von Calais nach Dover als von einer Seite von Cheapside zur
andern.

Ein wenig übertreiben die alten Herren. Seinep Höhepunkt erreicht der
Lärm des Tages auf der langen Linie, die unter verschiedenen Benennungen
zwischen Osten und Westen entlang und dem Themsestrom, dieser ursprünglichen
Hauptstraße Londons, parallel durch die City läuft. Doch gibt es windstille
Zeiten, da Einer von Whitehall bis Whitechapel -- kein kleines Stück die¬
ser Linie -- gemächlich wandern kann. Ist es ein Neuling vom Lande, wie
oft wird er nicht Halt machen! Aber der Menschenstrom fließt langsam und
wirft ihn nicht um. Er betrachtet den farbenreichen Kram hinter den


Grenzboten 111. 16V!). ZS
Aus einem englischen Notizbuch.
1. Das Haus zum Löwen und Einhorn in der City.

Im Herzen der City von London, gleich weit ungefähr vom Tower und
vom Temple Bar, steht ein alterthümliches Haus, der graue Hof genannt
oder zum Löwen und Einhorn. Lieblich und rein ist das Ale da, auch der
braune Porter in seiner Schaumperücke ist ohne Falsch, und was die Ge¬
selligkeit betrifft, so herrscht unter dem grauen Dache zuweilen noch ein so
munteres Treiben, wie es im heutigen London nicht allenthalben vorkommt.
Aber nur zuweilen, denn Vieles hat sich ringsum geändert, seit der Gro߬
vater die Großmutter nahm. Reichthum und Prunk sind sehr gestiegen, Ge-
sammtlondon ist zum Erschrecken gewachsen und manche Gewohnheit der Vor¬
eltern geschwunden. Die Sehnsucht nach frischer Luft und wohl auch der
steigende Werth altstädtischen Grund und Bodens haben zur Scheidung
zwischen Wohn - und Werkstatt geführt. Von den Hunderttausenden emsiger
Seelen, welche die City bei Tage mit Gedräng und Gebraus erfüllen, schläft
die Mehrzahl „weit von ihrem Brot." Wenn auch allabendliche Herdfeuer
in der Altstadt glimmen, so gilt dies zumeist von jenen Quartieren, wo die
Straßen noch nicht ganz mit Gold gepflastert sind; aus den stolzerem Thei¬
len ist die Familie längst ausgewandert, um für Waarenläden, Wechselstuben
und andere Bienenzellen Platz zu machen. Die Metropole setzt aber fort¬
während neue Ringe an, der grüne Nundsaum der Vorstädte mit den „Hütten"
(eotwMs) der achtbaren Leute rückt immer weiter ins Land hinaus, während
die alten, von Sir Christopher Wren entworfenen Citywege seit zwei Jahr¬
hunderten sich nirgendswo merklich erweitert haben. Der Leib wird zu voll¬
blütig für seine Blutgesäße und das Gedränge nimmt ewig zu. Daher
klagen die Graubärte in Gog und Magog's Reich über Mangel an Ruhe und
Frieden; sie könnten kaum mehr ein richtiges Mittagsschläfchen halten, kaum
ohne Gefahr und Beschwerde einen Gevatter besuchen, und man komme
leichter von Calais nach Dover als von einer Seite von Cheapside zur
andern.

Ein wenig übertreiben die alten Herren. Seinep Höhepunkt erreicht der
Lärm des Tages auf der langen Linie, die unter verschiedenen Benennungen
zwischen Osten und Westen entlang und dem Themsestrom, dieser ursprünglichen
Hauptstraße Londons, parallel durch die City läuft. Doch gibt es windstille
Zeiten, da Einer von Whitehall bis Whitechapel — kein kleines Stück die¬
ser Linie — gemächlich wandern kann. Ist es ein Neuling vom Lande, wie
oft wird er nicht Halt machen! Aber der Menschenstrom fließt langsam und
wirft ihn nicht um. Er betrachtet den farbenreichen Kram hinter den


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[0281] Aus einem englischen Notizbuch. 1. Das Haus zum Löwen und Einhorn in der City. Im Herzen der City von London, gleich weit ungefähr vom Tower und vom Temple Bar, steht ein alterthümliches Haus, der graue Hof genannt oder zum Löwen und Einhorn. Lieblich und rein ist das Ale da, auch der braune Porter in seiner Schaumperücke ist ohne Falsch, und was die Ge¬ selligkeit betrifft, so herrscht unter dem grauen Dache zuweilen noch ein so munteres Treiben, wie es im heutigen London nicht allenthalben vorkommt. Aber nur zuweilen, denn Vieles hat sich ringsum geändert, seit der Gro߬ vater die Großmutter nahm. Reichthum und Prunk sind sehr gestiegen, Ge- sammtlondon ist zum Erschrecken gewachsen und manche Gewohnheit der Vor¬ eltern geschwunden. Die Sehnsucht nach frischer Luft und wohl auch der steigende Werth altstädtischen Grund und Bodens haben zur Scheidung zwischen Wohn - und Werkstatt geführt. Von den Hunderttausenden emsiger Seelen, welche die City bei Tage mit Gedräng und Gebraus erfüllen, schläft die Mehrzahl „weit von ihrem Brot." Wenn auch allabendliche Herdfeuer in der Altstadt glimmen, so gilt dies zumeist von jenen Quartieren, wo die Straßen noch nicht ganz mit Gold gepflastert sind; aus den stolzerem Thei¬ len ist die Familie längst ausgewandert, um für Waarenläden, Wechselstuben und andere Bienenzellen Platz zu machen. Die Metropole setzt aber fort¬ während neue Ringe an, der grüne Nundsaum der Vorstädte mit den „Hütten" (eotwMs) der achtbaren Leute rückt immer weiter ins Land hinaus, während die alten, von Sir Christopher Wren entworfenen Citywege seit zwei Jahr¬ hunderten sich nirgendswo merklich erweitert haben. Der Leib wird zu voll¬ blütig für seine Blutgesäße und das Gedränge nimmt ewig zu. Daher klagen die Graubärte in Gog und Magog's Reich über Mangel an Ruhe und Frieden; sie könnten kaum mehr ein richtiges Mittagsschläfchen halten, kaum ohne Gefahr und Beschwerde einen Gevatter besuchen, und man komme leichter von Calais nach Dover als von einer Seite von Cheapside zur andern. Ein wenig übertreiben die alten Herren. Seinep Höhepunkt erreicht der Lärm des Tages auf der langen Linie, die unter verschiedenen Benennungen zwischen Osten und Westen entlang und dem Themsestrom, dieser ursprünglichen Hauptstraße Londons, parallel durch die City läuft. Doch gibt es windstille Zeiten, da Einer von Whitehall bis Whitechapel — kein kleines Stück die¬ ser Linie — gemächlich wandern kann. Ist es ein Neuling vom Lande, wie oft wird er nicht Halt machen! Aber der Menschenstrom fließt langsam und wirft ihn nicht um. Er betrachtet den farbenreichen Kram hinter den Grenzboten 111. 16V!). ZS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/281>, abgerufen am 22.07.2024.