Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

boxen Fanatismus sind die russischen Sympathien der Westslaven mit sehr
gemischten Empfindungen versetzt. Jetzt stehn die Dinge so, daß je nach dem
Verhalten Rußlands Erhaltung oder Zusammensturz der türkischen Zustände
prognosticirt wird: die ganze Friedenssicherheit bezüglich des Orients, in
welcher man sich neuerdings wiegt, beruht auf der Annahme, Nußland werde
still halten. Daß es auch ohne die Dazwischenkunft dieser Macht an'der
Donau losbrechen kann und daß dieser Losbruch nur Rußland keinen
Schaden bringen würde, -- dafür glauben wir auch in den vorliegenden
Berichten einige neue Belege angeführt zu haben. Keine Regierung kann
eine Garantie dafür übernehmen, daß es in den türkischen Grenzländern ruhig
bleibt, auch wenn Nußland nicht das Signal zum Aufstand gibt. Das wer¬
den auch die deutschen Politiker in Erwägung zu ziehen haben, wenn sie sich
für den kommenden Sommer einrichten.




Der norddeutsche Sund und Prinz Napoleon.

Dem Prinzen Napoleon war, wie verlautet, bei seiner Reise Haupt¬
zweck, durch seine Anschauungen von Personen und Verhältnissen den Kaiser
über die Lebenskraft des-norddeutschen Bundes, über die Stärke des Bundes
und der im Bundesgebiete dagegen reagirenden Bestrebungen aufzuklären.
Für solche Reise eines Familienmitgliedes mochte der Kaiser gute Gründe
haben. Bei dem französischen Botschafter in Berlin, Herrn Bencdetti, wird
eine besonders abgeneigte Stimmung gegen die Resultate des Jahres 1866
vorausgesetzt, die französischen Agenten der kleineren Höfe berichten nach den
Anschauungen der Coterien, in denen sie sich bewegen, und im Sinne ihrer
Instruction, durch welche sie an einigen Höfen zum Mittelpunkt der anti¬
preußischen Intriguen gemacht waren. Die bundesfeindliche Opposition hat
in mehreren deutschen Territorien die Scham verloren, welche im Jahre 1867
wenigstens mißvergnügte Privatleute abhielt, bei Frankreich Zuflucht zu
suchen; die Schilderungen allgemeiner Unzufriedenheit, welche nach Paris
liefen, hatten dort Eindruck gemacht und große Erwartungen erregt; die
Agenten des Weisen und anderer depossedirten oder geängsteten Dynastien
stellten den Augenblick als günstig dar, um den haltlosen Bau des Bundes
zu werfen, und wir dürfen den Umzug der hannöverischen Legion, die Wall¬
fahrt nach Hietzing, die Verbreitung der Proclamation in Kurhessen und ge¬
heime Werbungen in Hannover als planmäßige Versuche betrachten, ein großes
deutsches Mißvergnügen vor Europa festzustellen und ein Eingreifen des Kaisers
Napoleon zu provociren, welches außerdem in seiner Umgebung warme Ver¬
treter fand. Dazu kamen rührige Polen, welche in ihrem Sanguinismuö
versicherten, daß das polnische Element für Preußen eine große Verlegenheit
und eine gefährliche Schwächung seiner Kraft sei. So war in dem officiellen
Paris starke Neigung vorhanden, sich ein unrichtiges Bild von den deut¬
schen Verhältnissen zü machen.

Wir wissen nicht, ob die Beobachtungen, welche PrinzNapoleon von Kassel,


boxen Fanatismus sind die russischen Sympathien der Westslaven mit sehr
gemischten Empfindungen versetzt. Jetzt stehn die Dinge so, daß je nach dem
Verhalten Rußlands Erhaltung oder Zusammensturz der türkischen Zustände
prognosticirt wird: die ganze Friedenssicherheit bezüglich des Orients, in
welcher man sich neuerdings wiegt, beruht auf der Annahme, Nußland werde
still halten. Daß es auch ohne die Dazwischenkunft dieser Macht an'der
Donau losbrechen kann und daß dieser Losbruch nur Rußland keinen
Schaden bringen würde, — dafür glauben wir auch in den vorliegenden
Berichten einige neue Belege angeführt zu haben. Keine Regierung kann
eine Garantie dafür übernehmen, daß es in den türkischen Grenzländern ruhig
bleibt, auch wenn Nußland nicht das Signal zum Aufstand gibt. Das wer¬
den auch die deutschen Politiker in Erwägung zu ziehen haben, wenn sie sich
für den kommenden Sommer einrichten.




Der norddeutsche Sund und Prinz Napoleon.

Dem Prinzen Napoleon war, wie verlautet, bei seiner Reise Haupt¬
zweck, durch seine Anschauungen von Personen und Verhältnissen den Kaiser
über die Lebenskraft des-norddeutschen Bundes, über die Stärke des Bundes
und der im Bundesgebiete dagegen reagirenden Bestrebungen aufzuklären.
Für solche Reise eines Familienmitgliedes mochte der Kaiser gute Gründe
haben. Bei dem französischen Botschafter in Berlin, Herrn Bencdetti, wird
eine besonders abgeneigte Stimmung gegen die Resultate des Jahres 1866
vorausgesetzt, die französischen Agenten der kleineren Höfe berichten nach den
Anschauungen der Coterien, in denen sie sich bewegen, und im Sinne ihrer
Instruction, durch welche sie an einigen Höfen zum Mittelpunkt der anti¬
preußischen Intriguen gemacht waren. Die bundesfeindliche Opposition hat
in mehreren deutschen Territorien die Scham verloren, welche im Jahre 1867
wenigstens mißvergnügte Privatleute abhielt, bei Frankreich Zuflucht zu
suchen; die Schilderungen allgemeiner Unzufriedenheit, welche nach Paris
liefen, hatten dort Eindruck gemacht und große Erwartungen erregt; die
Agenten des Weisen und anderer depossedirten oder geängsteten Dynastien
stellten den Augenblick als günstig dar, um den haltlosen Bau des Bundes
zu werfen, und wir dürfen den Umzug der hannöverischen Legion, die Wall¬
fahrt nach Hietzing, die Verbreitung der Proclamation in Kurhessen und ge¬
heime Werbungen in Hannover als planmäßige Versuche betrachten, ein großes
deutsches Mißvergnügen vor Europa festzustellen und ein Eingreifen des Kaisers
Napoleon zu provociren, welches außerdem in seiner Umgebung warme Ver¬
treter fand. Dazu kamen rührige Polen, welche in ihrem Sanguinismuö
versicherten, daß das polnische Element für Preußen eine große Verlegenheit
und eine gefährliche Schwächung seiner Kraft sei. So war in dem officiellen
Paris starke Neigung vorhanden, sich ein unrichtiges Bild von den deut¬
schen Verhältnissen zü machen.

Wir wissen nicht, ob die Beobachtungen, welche PrinzNapoleon von Kassel,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117489"/>
            <p xml:id="ID_1583" prev="#ID_1582"> boxen Fanatismus sind die russischen Sympathien der Westslaven mit sehr<lb/>
gemischten Empfindungen versetzt. Jetzt stehn die Dinge so, daß je nach dem<lb/>
Verhalten Rußlands Erhaltung oder Zusammensturz der türkischen Zustände<lb/>
prognosticirt wird: die ganze Friedenssicherheit bezüglich des Orients, in<lb/>
welcher man sich neuerdings wiegt, beruht auf der Annahme, Nußland werde<lb/>
still halten. Daß es auch ohne die Dazwischenkunft dieser Macht an'der<lb/>
Donau losbrechen kann und daß dieser Losbruch nur Rußland keinen<lb/>
Schaden bringen würde, &#x2014; dafür glauben wir auch in den vorliegenden<lb/>
Berichten einige neue Belege angeführt zu haben. Keine Regierung kann<lb/>
eine Garantie dafür übernehmen, daß es in den türkischen Grenzländern ruhig<lb/>
bleibt, auch wenn Nußland nicht das Signal zum Aufstand gibt. Das wer¬<lb/>
den auch die deutschen Politiker in Erwägung zu ziehen haben, wenn sie sich<lb/>
für den kommenden Sommer einrichten.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der norddeutsche Sund und Prinz Napoleon.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1584"> Dem Prinzen Napoleon war, wie verlautet, bei seiner Reise Haupt¬<lb/>
zweck, durch seine Anschauungen von Personen und Verhältnissen den Kaiser<lb/>
über die Lebenskraft des-norddeutschen Bundes, über die Stärke des Bundes<lb/>
und der im Bundesgebiete dagegen reagirenden Bestrebungen aufzuklären.<lb/>
Für solche Reise eines Familienmitgliedes mochte der Kaiser gute Gründe<lb/>
haben. Bei dem französischen Botschafter in Berlin, Herrn Bencdetti, wird<lb/>
eine besonders abgeneigte Stimmung gegen die Resultate des Jahres 1866<lb/>
vorausgesetzt, die französischen Agenten der kleineren Höfe berichten nach den<lb/>
Anschauungen der Coterien, in denen sie sich bewegen, und im Sinne ihrer<lb/>
Instruction, durch welche sie an einigen Höfen zum Mittelpunkt der anti¬<lb/>
preußischen Intriguen gemacht waren. Die bundesfeindliche Opposition hat<lb/>
in mehreren deutschen Territorien die Scham verloren, welche im Jahre 1867<lb/>
wenigstens mißvergnügte Privatleute abhielt, bei Frankreich Zuflucht zu<lb/>
suchen; die Schilderungen allgemeiner Unzufriedenheit, welche nach Paris<lb/>
liefen, hatten dort Eindruck gemacht und große Erwartungen erregt; die<lb/>
Agenten des Weisen und anderer depossedirten oder geängsteten Dynastien<lb/>
stellten den Augenblick als günstig dar, um den haltlosen Bau des Bundes<lb/>
zu werfen, und wir dürfen den Umzug der hannöverischen Legion, die Wall¬<lb/>
fahrt nach Hietzing, die Verbreitung der Proclamation in Kurhessen und ge¬<lb/>
heime Werbungen in Hannover als planmäßige Versuche betrachten, ein großes<lb/>
deutsches Mißvergnügen vor Europa festzustellen und ein Eingreifen des Kaisers<lb/>
Napoleon zu provociren, welches außerdem in seiner Umgebung warme Ver¬<lb/>
treter fand. Dazu kamen rührige Polen, welche in ihrem Sanguinismuö<lb/>
versicherten, daß das polnische Element für Preußen eine große Verlegenheit<lb/>
und eine gefährliche Schwächung seiner Kraft sei. So war in dem officiellen<lb/>
Paris starke Neigung vorhanden, sich ein unrichtiges Bild von den deut¬<lb/>
schen Verhältnissen zü machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1585" next="#ID_1586"> Wir wissen nicht, ob die Beobachtungen, welche PrinzNapoleon von Kassel,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0487] boxen Fanatismus sind die russischen Sympathien der Westslaven mit sehr gemischten Empfindungen versetzt. Jetzt stehn die Dinge so, daß je nach dem Verhalten Rußlands Erhaltung oder Zusammensturz der türkischen Zustände prognosticirt wird: die ganze Friedenssicherheit bezüglich des Orients, in welcher man sich neuerdings wiegt, beruht auf der Annahme, Nußland werde still halten. Daß es auch ohne die Dazwischenkunft dieser Macht an'der Donau losbrechen kann und daß dieser Losbruch nur Rußland keinen Schaden bringen würde, — dafür glauben wir auch in den vorliegenden Berichten einige neue Belege angeführt zu haben. Keine Regierung kann eine Garantie dafür übernehmen, daß es in den türkischen Grenzländern ruhig bleibt, auch wenn Nußland nicht das Signal zum Aufstand gibt. Das wer¬ den auch die deutschen Politiker in Erwägung zu ziehen haben, wenn sie sich für den kommenden Sommer einrichten. Der norddeutsche Sund und Prinz Napoleon. Dem Prinzen Napoleon war, wie verlautet, bei seiner Reise Haupt¬ zweck, durch seine Anschauungen von Personen und Verhältnissen den Kaiser über die Lebenskraft des-norddeutschen Bundes, über die Stärke des Bundes und der im Bundesgebiete dagegen reagirenden Bestrebungen aufzuklären. Für solche Reise eines Familienmitgliedes mochte der Kaiser gute Gründe haben. Bei dem französischen Botschafter in Berlin, Herrn Bencdetti, wird eine besonders abgeneigte Stimmung gegen die Resultate des Jahres 1866 vorausgesetzt, die französischen Agenten der kleineren Höfe berichten nach den Anschauungen der Coterien, in denen sie sich bewegen, und im Sinne ihrer Instruction, durch welche sie an einigen Höfen zum Mittelpunkt der anti¬ preußischen Intriguen gemacht waren. Die bundesfeindliche Opposition hat in mehreren deutschen Territorien die Scham verloren, welche im Jahre 1867 wenigstens mißvergnügte Privatleute abhielt, bei Frankreich Zuflucht zu suchen; die Schilderungen allgemeiner Unzufriedenheit, welche nach Paris liefen, hatten dort Eindruck gemacht und große Erwartungen erregt; die Agenten des Weisen und anderer depossedirten oder geängsteten Dynastien stellten den Augenblick als günstig dar, um den haltlosen Bau des Bundes zu werfen, und wir dürfen den Umzug der hannöverischen Legion, die Wall¬ fahrt nach Hietzing, die Verbreitung der Proclamation in Kurhessen und ge¬ heime Werbungen in Hannover als planmäßige Versuche betrachten, ein großes deutsches Mißvergnügen vor Europa festzustellen und ein Eingreifen des Kaisers Napoleon zu provociren, welches außerdem in seiner Umgebung warme Ver¬ treter fand. Dazu kamen rührige Polen, welche in ihrem Sanguinismuö versicherten, daß das polnische Element für Preußen eine große Verlegenheit und eine gefährliche Schwächung seiner Kraft sei. So war in dem officiellen Paris starke Neigung vorhanden, sich ein unrichtiges Bild von den deut¬ schen Verhältnissen zü machen. Wir wissen nicht, ob die Beobachtungen, welche PrinzNapoleon von Kassel,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/487
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/487>, abgerufen am 28.09.2024.