Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zum materiellen Zwange greifen wollten. Dann müßten sie aber auch vereint
bleiben, aber die neuesten Ereignisse, namentlich die salzburger Begegnung
hätten leider auf die Türken den Eindruck machen müssen, als ob das Ein-
verständniß zwischen Frankreich und Rußland erschüttert sei. Frankreich zog
sich dann auch immer mehr auf die englisch-östreichische Seite zurück und
brach seiner Theilnahme an der Überreichung der Note Ä, qugtrs in Con-
stantinopel durch die Erklärung, daß es damit nur frühere Verpflichtungen
erfülle, die Spitze ab. So standen die Dinge im Herbste, und wir wollen
nun in einem zweiten Artikel sehen, wie die Verhältnisse in der Türkei selbst
liegen und wie die Mächte nach den neuesten Ereignissen zur orientalischen
Frage stehen.




Seitdem unser Ministerium seinem Reformdrang die Schleusen geöffnet
hat, hört der Segen gar nicht mehr auf. Unerschöpflich ergießt sich das
Füllhorn liberalisirender Projekte über alle Zweige des öffentlichen Dienstes.
Und da unser Land zuvor schon laut Moriz Mohl das wahre Eldorado war
und laut "Beobachter" seit Jahrhunderten der Hort der wahren Freiheit
gewesen, so steht bei diesem unablässigen Mannaregen der Freiheit, der aus
den obern Regionen herabträufelt, zu befürchten, daß das kleine Königreich
nächstens nicht Raum genug fasse, um so viele Freiheit unterzubringen und
aufzubewahren; nicht zu gedenken des fatalen Umstandes. daß durch solchen
Segen die Kluft, die uns von unsern norddeutschen in Barbarei und Knecht¬
schaft verlorenen Brüdern trennt, immer bedenklicher erweitert werden muß.
Vollends seitdem die Aufhebung der Prügelstrafe beschlossen ist, die sich als
eine anmuthige schwäbische Eigenthümlichkeit bis in die erste Woche des
Jahres des Heils 1868 hinein erhalten hatte.

Freilich ist schon die bloße Möglichkeit, so vieles an den bisherigen Ein"
richtungen zu verbessern, einigermaßen geeignet, Zweifel an der Musterhaftig¬
keit derselben einzuflößen. Die Reformvorschläge sind in der That schon des¬
wegen erwünscht, weil sie die Erinnerung an Halbvergessenes wieder auf¬
frischen, weil sie die bisherigen Zustände aufdecken, über die ivtra, se extra
muros soviel gefabelt worden. Unsere Zeit zerstört unbarmherzig alle My¬
then, auch den von der würtembergischen Freiheit. Würtemberg -- das ist
die erste Wahrnehmung -- ist bisher der gerühmte Musterstaat der Freiheit
nicht gewesen. Die zweite Wahrnehmung ist leider die: nach den durchge¬
führten Reformen wird es ebensowenig diesen Namen verdienen.


zum materiellen Zwange greifen wollten. Dann müßten sie aber auch vereint
bleiben, aber die neuesten Ereignisse, namentlich die salzburger Begegnung
hätten leider auf die Türken den Eindruck machen müssen, als ob das Ein-
verständniß zwischen Frankreich und Rußland erschüttert sei. Frankreich zog
sich dann auch immer mehr auf die englisch-östreichische Seite zurück und
brach seiner Theilnahme an der Überreichung der Note Ä, qugtrs in Con-
stantinopel durch die Erklärung, daß es damit nur frühere Verpflichtungen
erfülle, die Spitze ab. So standen die Dinge im Herbste, und wir wollen
nun in einem zweiten Artikel sehen, wie die Verhältnisse in der Türkei selbst
liegen und wie die Mächte nach den neuesten Ereignissen zur orientalischen
Frage stehen.




Seitdem unser Ministerium seinem Reformdrang die Schleusen geöffnet
hat, hört der Segen gar nicht mehr auf. Unerschöpflich ergießt sich das
Füllhorn liberalisirender Projekte über alle Zweige des öffentlichen Dienstes.
Und da unser Land zuvor schon laut Moriz Mohl das wahre Eldorado war
und laut „Beobachter" seit Jahrhunderten der Hort der wahren Freiheit
gewesen, so steht bei diesem unablässigen Mannaregen der Freiheit, der aus
den obern Regionen herabträufelt, zu befürchten, daß das kleine Königreich
nächstens nicht Raum genug fasse, um so viele Freiheit unterzubringen und
aufzubewahren; nicht zu gedenken des fatalen Umstandes. daß durch solchen
Segen die Kluft, die uns von unsern norddeutschen in Barbarei und Knecht¬
schaft verlorenen Brüdern trennt, immer bedenklicher erweitert werden muß.
Vollends seitdem die Aufhebung der Prügelstrafe beschlossen ist, die sich als
eine anmuthige schwäbische Eigenthümlichkeit bis in die erste Woche des
Jahres des Heils 1868 hinein erhalten hatte.

Freilich ist schon die bloße Möglichkeit, so vieles an den bisherigen Ein«
richtungen zu verbessern, einigermaßen geeignet, Zweifel an der Musterhaftig¬
keit derselben einzuflößen. Die Reformvorschläge sind in der That schon des¬
wegen erwünscht, weil sie die Erinnerung an Halbvergessenes wieder auf¬
frischen, weil sie die bisherigen Zustände aufdecken, über die ivtra, se extra
muros soviel gefabelt worden. Unsere Zeit zerstört unbarmherzig alle My¬
then, auch den von der würtembergischen Freiheit. Würtemberg — das ist
die erste Wahrnehmung — ist bisher der gerühmte Musterstaat der Freiheit
nicht gewesen. Die zweite Wahrnehmung ist leider die: nach den durchge¬
führten Reformen wird es ebensowenig diesen Namen verdienen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117118"/>
            <p xml:id="ID_322" prev="#ID_321"> zum materiellen Zwange greifen wollten. Dann müßten sie aber auch vereint<lb/>
bleiben, aber die neuesten Ereignisse, namentlich die salzburger Begegnung<lb/>
hätten leider auf die Türken den Eindruck machen müssen, als ob das Ein-<lb/>
verständniß zwischen Frankreich und Rußland erschüttert sei. Frankreich zog<lb/>
sich dann auch immer mehr auf die englisch-östreichische Seite zurück und<lb/>
brach seiner Theilnahme an der Überreichung der Note Ä, qugtrs in Con-<lb/>
stantinopel durch die Erklärung, daß es damit nur frühere Verpflichtungen<lb/>
erfülle, die Spitze ab. So standen die Dinge im Herbste, und wir wollen<lb/>
nun in einem zweiten Artikel sehen, wie die Verhältnisse in der Türkei selbst<lb/>
liegen und wie die Mächte nach den neuesten Ereignissen zur orientalischen<lb/>
Frage stehen.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> </head><lb/>
          <p xml:id="ID_323"> Seitdem unser Ministerium seinem Reformdrang die Schleusen geöffnet<lb/>
hat, hört der Segen gar nicht mehr auf. Unerschöpflich ergießt sich das<lb/>
Füllhorn liberalisirender Projekte über alle Zweige des öffentlichen Dienstes.<lb/>
Und da unser Land zuvor schon laut Moriz Mohl das wahre Eldorado war<lb/>
und laut &#x201E;Beobachter" seit Jahrhunderten der Hort der wahren Freiheit<lb/>
gewesen, so steht bei diesem unablässigen Mannaregen der Freiheit, der aus<lb/>
den obern Regionen herabträufelt, zu befürchten, daß das kleine Königreich<lb/>
nächstens nicht Raum genug fasse, um so viele Freiheit unterzubringen und<lb/>
aufzubewahren; nicht zu gedenken des fatalen Umstandes. daß durch solchen<lb/>
Segen die Kluft, die uns von unsern norddeutschen in Barbarei und Knecht¬<lb/>
schaft verlorenen Brüdern trennt, immer bedenklicher erweitert werden muß.<lb/>
Vollends seitdem die Aufhebung der Prügelstrafe beschlossen ist, die sich als<lb/>
eine anmuthige schwäbische Eigenthümlichkeit bis in die erste Woche des<lb/>
Jahres des Heils 1868 hinein erhalten hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_324"> Freilich ist schon die bloße Möglichkeit, so vieles an den bisherigen Ein«<lb/>
richtungen zu verbessern, einigermaßen geeignet, Zweifel an der Musterhaftig¬<lb/>
keit derselben einzuflößen. Die Reformvorschläge sind in der That schon des¬<lb/>
wegen erwünscht, weil sie die Erinnerung an Halbvergessenes wieder auf¬<lb/>
frischen, weil sie die bisherigen Zustände aufdecken, über die ivtra, se extra<lb/>
muros soviel gefabelt worden. Unsere Zeit zerstört unbarmherzig alle My¬<lb/>
then, auch den von der würtembergischen Freiheit. Würtemberg &#x2014; das ist<lb/>
die erste Wahrnehmung &#x2014; ist bisher der gerühmte Musterstaat der Freiheit<lb/>
nicht gewesen. Die zweite Wahrnehmung ist leider die: nach den durchge¬<lb/>
führten Reformen wird es ebensowenig diesen Namen verdienen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] zum materiellen Zwange greifen wollten. Dann müßten sie aber auch vereint bleiben, aber die neuesten Ereignisse, namentlich die salzburger Begegnung hätten leider auf die Türken den Eindruck machen müssen, als ob das Ein- verständniß zwischen Frankreich und Rußland erschüttert sei. Frankreich zog sich dann auch immer mehr auf die englisch-östreichische Seite zurück und brach seiner Theilnahme an der Überreichung der Note Ä, qugtrs in Con- stantinopel durch die Erklärung, daß es damit nur frühere Verpflichtungen erfülle, die Spitze ab. So standen die Dinge im Herbste, und wir wollen nun in einem zweiten Artikel sehen, wie die Verhältnisse in der Türkei selbst liegen und wie die Mächte nach den neuesten Ereignissen zur orientalischen Frage stehen. Seitdem unser Ministerium seinem Reformdrang die Schleusen geöffnet hat, hört der Segen gar nicht mehr auf. Unerschöpflich ergießt sich das Füllhorn liberalisirender Projekte über alle Zweige des öffentlichen Dienstes. Und da unser Land zuvor schon laut Moriz Mohl das wahre Eldorado war und laut „Beobachter" seit Jahrhunderten der Hort der wahren Freiheit gewesen, so steht bei diesem unablässigen Mannaregen der Freiheit, der aus den obern Regionen herabträufelt, zu befürchten, daß das kleine Königreich nächstens nicht Raum genug fasse, um so viele Freiheit unterzubringen und aufzubewahren; nicht zu gedenken des fatalen Umstandes. daß durch solchen Segen die Kluft, die uns von unsern norddeutschen in Barbarei und Knecht¬ schaft verlorenen Brüdern trennt, immer bedenklicher erweitert werden muß. Vollends seitdem die Aufhebung der Prügelstrafe beschlossen ist, die sich als eine anmuthige schwäbische Eigenthümlichkeit bis in die erste Woche des Jahres des Heils 1868 hinein erhalten hatte. Freilich ist schon die bloße Möglichkeit, so vieles an den bisherigen Ein« richtungen zu verbessern, einigermaßen geeignet, Zweifel an der Musterhaftig¬ keit derselben einzuflößen. Die Reformvorschläge sind in der That schon des¬ wegen erwünscht, weil sie die Erinnerung an Halbvergessenes wieder auf¬ frischen, weil sie die bisherigen Zustände aufdecken, über die ivtra, se extra muros soviel gefabelt worden. Unsere Zeit zerstört unbarmherzig alle My¬ then, auch den von der würtembergischen Freiheit. Würtemberg — das ist die erste Wahrnehmung — ist bisher der gerühmte Musterstaat der Freiheit nicht gewesen. Die zweite Wahrnehmung ist leider die: nach den durchge¬ führten Reformen wird es ebensowenig diesen Namen verdienen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/112>, abgerufen am 29.06.2024.