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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Der londoner Vertrag und Siiddentschland.

Man kann sich im Süden der Empfindung nicht erwehren, daß, wenn die
preußische Regierung sich dazu verstanden hat, das Opfer des Besatzungsrechts
in Luxemburg zu bringen, eines der Motive ohne Zweifel die Unfertigkeit un¬
serer militärischen Organisation gewesen ist, die nach achtmonatlichen Nichtsthun
noch fast genau dieselbe war wie zur Zeit des letzten Kriegs. Einen der Kriegs¬
schauplatze hätte aller Wahrscheinlichkeit zufolge eben Süddeutschland gebildet.
Offen und wehrlos lag es dem Feinde da, und nicht nur die militärische Schwäche,
sondern auch die unsichere Gesinnung an den Höfen mochte dazu verlocken, eine
Diversion über den Oberrhein zu machen und gleich im Anfang des Feldzugs
die süddeutschen Staaten mindestens neutral zu legen. Die einzige Hilfe lag
in Preußen, wir selbst waren nichts, und es konnte nur einen komischen Ein¬
druck machen, wenn grade in Süddeutschland, das kaum ein Gewehr loszu¬
drücken hatte, pathetische Mahnungen sich anstrengten, die nationalen Pflichten
in der luxemburger Frage einzuschärfen. Für Preußen selbst aber war diese
Lage des Südens ein begreifliches Hinderniß seiner Operationen. Seine mora¬
lische Verpflichtung, Süddeutschland zu decken, ging weiter, als vielleicht die rein
strategischen Rücksichten vorschrieben. Und doch wäre eben dazu eine Mitwirkung
der süddeutschen Streitkräfte unerläßlich gewesen, während jetzt für diese kein
anderer Rath war, als sich bei Zeiten hinter den Mauern von Rastatt und Ulm
zu bergen. Jedermann erhob die Prätension, daß Preußen uns schützen müsse,
aber diejenigen am lautesten, welche das Bündniß mit Preußen am wüthendsten
bekämpft hatten und noch bekämpften.

Sicher war dies nicht der einzige Grund, der den Entschluß der preußischen
Regierung bestimmte. Es zogen noch andere Momente die Wagschale des
Friedens, nieder. War auch das preußische Heer im jetzigen Augenblick dem
französischen unzweifelhaft überlegen, und war es fraglich, ob man L. Napoleon
die Zeit zur Vollendung seiner Armeereform und seiner Hinterlader lassen solle,
so stand andrerseits die Erwägung, daß auch die deutschen Wehrkräfte in der
Zwischenzeit an Stärke nur gewinnen können. Noch fehlt in den neuannectirten
Provinzen und in den kleinen Staaten des Nordhundes den Bataillonen die voll¬
zählige Kriegsstärke Es war bedenklich, eine politische Schöpfung von so kurzer
Dauer den Prüfungen eines großen Krieges auszusetzen, der den Anhängern der
alten Zustände neue Hoffnungen erweckte und wo nicht gefährliche, doch lästige


Der londoner Vertrag und Siiddentschland.

Man kann sich im Süden der Empfindung nicht erwehren, daß, wenn die
preußische Regierung sich dazu verstanden hat, das Opfer des Besatzungsrechts
in Luxemburg zu bringen, eines der Motive ohne Zweifel die Unfertigkeit un¬
serer militärischen Organisation gewesen ist, die nach achtmonatlichen Nichtsthun
noch fast genau dieselbe war wie zur Zeit des letzten Kriegs. Einen der Kriegs¬
schauplatze hätte aller Wahrscheinlichkeit zufolge eben Süddeutschland gebildet.
Offen und wehrlos lag es dem Feinde da, und nicht nur die militärische Schwäche,
sondern auch die unsichere Gesinnung an den Höfen mochte dazu verlocken, eine
Diversion über den Oberrhein zu machen und gleich im Anfang des Feldzugs
die süddeutschen Staaten mindestens neutral zu legen. Die einzige Hilfe lag
in Preußen, wir selbst waren nichts, und es konnte nur einen komischen Ein¬
druck machen, wenn grade in Süddeutschland, das kaum ein Gewehr loszu¬
drücken hatte, pathetische Mahnungen sich anstrengten, die nationalen Pflichten
in der luxemburger Frage einzuschärfen. Für Preußen selbst aber war diese
Lage des Südens ein begreifliches Hinderniß seiner Operationen. Seine mora¬
lische Verpflichtung, Süddeutschland zu decken, ging weiter, als vielleicht die rein
strategischen Rücksichten vorschrieben. Und doch wäre eben dazu eine Mitwirkung
der süddeutschen Streitkräfte unerläßlich gewesen, während jetzt für diese kein
anderer Rath war, als sich bei Zeiten hinter den Mauern von Rastatt und Ulm
zu bergen. Jedermann erhob die Prätension, daß Preußen uns schützen müsse,
aber diejenigen am lautesten, welche das Bündniß mit Preußen am wüthendsten
bekämpft hatten und noch bekämpften.

Sicher war dies nicht der einzige Grund, der den Entschluß der preußischen
Regierung bestimmte. Es zogen noch andere Momente die Wagschale des
Friedens, nieder. War auch das preußische Heer im jetzigen Augenblick dem
französischen unzweifelhaft überlegen, und war es fraglich, ob man L. Napoleon
die Zeit zur Vollendung seiner Armeereform und seiner Hinterlader lassen solle,
so stand andrerseits die Erwägung, daß auch die deutschen Wehrkräfte in der
Zwischenzeit an Stärke nur gewinnen können. Noch fehlt in den neuannectirten
Provinzen und in den kleinen Staaten des Nordhundes den Bataillonen die voll¬
zählige Kriegsstärke Es war bedenklich, eine politische Schöpfung von so kurzer
Dauer den Prüfungen eines großen Krieges auszusetzen, der den Anhängern der
alten Zustände neue Hoffnungen erweckte und wo nicht gefährliche, doch lästige


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[0400] Der londoner Vertrag und Siiddentschland. Man kann sich im Süden der Empfindung nicht erwehren, daß, wenn die preußische Regierung sich dazu verstanden hat, das Opfer des Besatzungsrechts in Luxemburg zu bringen, eines der Motive ohne Zweifel die Unfertigkeit un¬ serer militärischen Organisation gewesen ist, die nach achtmonatlichen Nichtsthun noch fast genau dieselbe war wie zur Zeit des letzten Kriegs. Einen der Kriegs¬ schauplatze hätte aller Wahrscheinlichkeit zufolge eben Süddeutschland gebildet. Offen und wehrlos lag es dem Feinde da, und nicht nur die militärische Schwäche, sondern auch die unsichere Gesinnung an den Höfen mochte dazu verlocken, eine Diversion über den Oberrhein zu machen und gleich im Anfang des Feldzugs die süddeutschen Staaten mindestens neutral zu legen. Die einzige Hilfe lag in Preußen, wir selbst waren nichts, und es konnte nur einen komischen Ein¬ druck machen, wenn grade in Süddeutschland, das kaum ein Gewehr loszu¬ drücken hatte, pathetische Mahnungen sich anstrengten, die nationalen Pflichten in der luxemburger Frage einzuschärfen. Für Preußen selbst aber war diese Lage des Südens ein begreifliches Hinderniß seiner Operationen. Seine mora¬ lische Verpflichtung, Süddeutschland zu decken, ging weiter, als vielleicht die rein strategischen Rücksichten vorschrieben. Und doch wäre eben dazu eine Mitwirkung der süddeutschen Streitkräfte unerläßlich gewesen, während jetzt für diese kein anderer Rath war, als sich bei Zeiten hinter den Mauern von Rastatt und Ulm zu bergen. Jedermann erhob die Prätension, daß Preußen uns schützen müsse, aber diejenigen am lautesten, welche das Bündniß mit Preußen am wüthendsten bekämpft hatten und noch bekämpften. Sicher war dies nicht der einzige Grund, der den Entschluß der preußischen Regierung bestimmte. Es zogen noch andere Momente die Wagschale des Friedens, nieder. War auch das preußische Heer im jetzigen Augenblick dem französischen unzweifelhaft überlegen, und war es fraglich, ob man L. Napoleon die Zeit zur Vollendung seiner Armeereform und seiner Hinterlader lassen solle, so stand andrerseits die Erwägung, daß auch die deutschen Wehrkräfte in der Zwischenzeit an Stärke nur gewinnen können. Noch fehlt in den neuannectirten Provinzen und in den kleinen Staaten des Nordhundes den Bataillonen die voll¬ zählige Kriegsstärke Es war bedenklich, eine politische Schöpfung von so kurzer Dauer den Prüfungen eines großen Krieges auszusetzen, der den Anhängern der alten Zustände neue Hoffnungen erweckte und wo nicht gefährliche, doch lästige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/400>, abgerufen am 22.07.2024.