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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Die freie Kirche im freien Staat.

Als am 11. December v. I. der Telegraph die Kunde in die Welt trug:
"Am Morgen sind die letzten Franzosen abgezogen; Rom ist ruhig," zitterte
der Gedanke durch die Gemüther, daß die Weltgeschichte um eines ihrer großen
Daten reicher geworden sei. Nicht Wenige mochten dabei denken, daß wenn
nicht heute, so doch morgen die Nachricht von großen überraschenden Ereignissen
jener ersten auf dem Fuße folgen müsse. Allein Rom blieb ruhig: die Bevöl¬
kerung entsprach den Anforderungen, die zunächst an ihren politischen Tact ge¬
stellt wurden. In ihrer Hand lag die Entscheidung, ob der Abzug der Fran¬
zosen das Signal zu einem ephemeren Pulses'oder der Ausgangspunkt für eine
definitive Auseinandersetzung zwischen dem italienischen Staate und dem Papst¬
thum werden sollte. Seit dem 11. December steht, kein französischer Soldat
auf dem Boden des Kirchenstaats und noch ist keinen Augenblick die Ordnung
gestört worden; die Aufreizungen Mazzinis sind wirkungslos geblieben, der
Papst residirt wie zuvor im Vatican. das alte Räderwerk der kirchlichen Ver¬
waltung thut noch immer seine Dienste, und seit drei Monaten trägt die rö¬
mische Bevölkerung mit musterhafter Geduld ein Regiment, das sie jeden Tag
zu stürzen im Stande wäre, ein Regiment, das ihr verhaßt ist, und das fast
eingestandenermaßen jede Möglichkeit einer Verbesserung ausschließt.

Denn dies gehört mit zum Merkwürdigsten in dieser merkwürdigen römi¬
schen Frage, daß das Papstthum keinen Versuch gemacht hat, sich in der Be¬
völkerung diejenige Stütze zu suchen, die ihm durch den Abzug der Schutzmacht
entrissen ist, nicht den mindesten Versuch, seiner Negierung auch nur einen popu¬
lären Anstrich zu geben. Seit dem Briefe an Edgar Ney im Jahre 1849 ist
Napoleon nicht müde geworden, den heiligen Stuhl zu Reformen in der Ver¬
waltung zu ernähren, welche allein die Möglichkeit eines Bestandes des Kirchen¬
staates sichern könnten. Noch nach dem Abschluß des Septembervertrags hat
es Frankreich nicht an Rathschlägen in diesem Sinn fehlen lassen. Aber das


Grenzboten I. 18V7. 63
Die freie Kirche im freien Staat.

Als am 11. December v. I. der Telegraph die Kunde in die Welt trug:
„Am Morgen sind die letzten Franzosen abgezogen; Rom ist ruhig," zitterte
der Gedanke durch die Gemüther, daß die Weltgeschichte um eines ihrer großen
Daten reicher geworden sei. Nicht Wenige mochten dabei denken, daß wenn
nicht heute, so doch morgen die Nachricht von großen überraschenden Ereignissen
jener ersten auf dem Fuße folgen müsse. Allein Rom blieb ruhig: die Bevöl¬
kerung entsprach den Anforderungen, die zunächst an ihren politischen Tact ge¬
stellt wurden. In ihrer Hand lag die Entscheidung, ob der Abzug der Fran¬
zosen das Signal zu einem ephemeren Pulses'oder der Ausgangspunkt für eine
definitive Auseinandersetzung zwischen dem italienischen Staate und dem Papst¬
thum werden sollte. Seit dem 11. December steht, kein französischer Soldat
auf dem Boden des Kirchenstaats und noch ist keinen Augenblick die Ordnung
gestört worden; die Aufreizungen Mazzinis sind wirkungslos geblieben, der
Papst residirt wie zuvor im Vatican. das alte Räderwerk der kirchlichen Ver¬
waltung thut noch immer seine Dienste, und seit drei Monaten trägt die rö¬
mische Bevölkerung mit musterhafter Geduld ein Regiment, das sie jeden Tag
zu stürzen im Stande wäre, ein Regiment, das ihr verhaßt ist, und das fast
eingestandenermaßen jede Möglichkeit einer Verbesserung ausschließt.

Denn dies gehört mit zum Merkwürdigsten in dieser merkwürdigen römi¬
schen Frage, daß das Papstthum keinen Versuch gemacht hat, sich in der Be¬
völkerung diejenige Stütze zu suchen, die ihm durch den Abzug der Schutzmacht
entrissen ist, nicht den mindesten Versuch, seiner Negierung auch nur einen popu¬
lären Anstrich zu geben. Seit dem Briefe an Edgar Ney im Jahre 1849 ist
Napoleon nicht müde geworden, den heiligen Stuhl zu Reformen in der Ver¬
waltung zu ernähren, welche allein die Möglichkeit eines Bestandes des Kirchen¬
staates sichern könnten. Noch nach dem Abschluß des Septembervertrags hat
es Frankreich nicht an Rathschlägen in diesem Sinn fehlen lassen. Aber das


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[0499] Die freie Kirche im freien Staat. Als am 11. December v. I. der Telegraph die Kunde in die Welt trug: „Am Morgen sind die letzten Franzosen abgezogen; Rom ist ruhig," zitterte der Gedanke durch die Gemüther, daß die Weltgeschichte um eines ihrer großen Daten reicher geworden sei. Nicht Wenige mochten dabei denken, daß wenn nicht heute, so doch morgen die Nachricht von großen überraschenden Ereignissen jener ersten auf dem Fuße folgen müsse. Allein Rom blieb ruhig: die Bevöl¬ kerung entsprach den Anforderungen, die zunächst an ihren politischen Tact ge¬ stellt wurden. In ihrer Hand lag die Entscheidung, ob der Abzug der Fran¬ zosen das Signal zu einem ephemeren Pulses'oder der Ausgangspunkt für eine definitive Auseinandersetzung zwischen dem italienischen Staate und dem Papst¬ thum werden sollte. Seit dem 11. December steht, kein französischer Soldat auf dem Boden des Kirchenstaats und noch ist keinen Augenblick die Ordnung gestört worden; die Aufreizungen Mazzinis sind wirkungslos geblieben, der Papst residirt wie zuvor im Vatican. das alte Räderwerk der kirchlichen Ver¬ waltung thut noch immer seine Dienste, und seit drei Monaten trägt die rö¬ mische Bevölkerung mit musterhafter Geduld ein Regiment, das sie jeden Tag zu stürzen im Stande wäre, ein Regiment, das ihr verhaßt ist, und das fast eingestandenermaßen jede Möglichkeit einer Verbesserung ausschließt. Denn dies gehört mit zum Merkwürdigsten in dieser merkwürdigen römi¬ schen Frage, daß das Papstthum keinen Versuch gemacht hat, sich in der Be¬ völkerung diejenige Stütze zu suchen, die ihm durch den Abzug der Schutzmacht entrissen ist, nicht den mindesten Versuch, seiner Negierung auch nur einen popu¬ lären Anstrich zu geben. Seit dem Briefe an Edgar Ney im Jahre 1849 ist Napoleon nicht müde geworden, den heiligen Stuhl zu Reformen in der Ver¬ waltung zu ernähren, welche allein die Möglichkeit eines Bestandes des Kirchen¬ staates sichern könnten. Noch nach dem Abschluß des Septembervertrags hat es Frankreich nicht an Rathschlägen in diesem Sinn fehlen lassen. Aber das Grenzboten I. 18V7. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/499>, abgerufen am 27.06.2024.