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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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giebt. Der Erforscher des Alterthums, sei es nun eines nähern oder eines
fernern, steht auf dem aufgerissenen Boden, den früher ein gestaltenreiches Mo-
saikbild bedeckte; noch ist nicht alles zertrümmert; manche Handbreit hat sich
erhalten; fleißige und scharfsinnige Leute haben die zerstreut herumliegenden
bunten Steinchen geprüft und an das Unversehrte gefügt, wie es eine correcte
Zeichnung zu erfordern schien; denn nicht blinde Willkür darf die Hand leiten,
welche an der Herstellung arbeitet; von zwei Seiten sind dem Belieben Schranken
gesetzt und ist Bürgschaft für die Richtigkeit des Geleisteten gegeben: kein
Steinchen darf übrig bleiben, also daß sich keine passende Stelle dafür finden
ließe, und was herauskommt, das müssen menschliche Gestalten, vielleicht in
fremdartiger, seltsamer Gewandung, mit ungewohnter Haltung und Geberde,
aber es müssen Menschen sein wie wir selbst.

Auf neu gewonnenes Material zu jener Arbeit hinzuweisen und anzudeuten,
wo dieses oder jenes Steinchen sich werde einfügen lassen, war die bescheidene
Aufgabe vorstehender Seiten.


Adolf Tobler.


LMes Verdienste um die Kunstgeschichte.

Dr. Wilhelm Lübke, Vorschule zum Studium der kirchlichen Kunst des deutschen
Mittelalters. Fünfte Auflage. Leipzig, Seemann. 1866.

I. N. Unserem Jahrhundert war es vorbehalten, das ganze Gebiet der
bildenden Kunst sowohl in seinem eigenen geschichtlichen Zusammenhange als
in seiner tieferen Bedeutung für das geistige Leben überhaupt zu erfassen. Man
mag über den Mangel der Zeit an unbefangener und ursprünglicher Schaffens¬
kraft klagen; dafür hat die kritische und geschichtliche Denkweise das ganze Dasein
durchzogen wie ein klares Wasser, das in seinem ruhigen gleichmäßigen Flusse
die Spiegelbilder der vergegangenen wie der gegenwärtigen Dinge auffängt.
Jetzt freilich scheint diese Arbeit der Gesittung und Bildung einer langen Friedens¬
zeit durch den tiefgreifenden Eintritt der jüngsten geschichtlichen Ereignisse an einen
Abschnitt gelangt, und möglich, daß nun neue Sitten und Anschauungen, damit
neue produktive Kräfte eine eigenthümliche Kunstepoche herausbringen. Immer"
hin wird dann der gründliche und einsichtige Fleiß, der mit den Schätzen der


giebt. Der Erforscher des Alterthums, sei es nun eines nähern oder eines
fernern, steht auf dem aufgerissenen Boden, den früher ein gestaltenreiches Mo-
saikbild bedeckte; noch ist nicht alles zertrümmert; manche Handbreit hat sich
erhalten; fleißige und scharfsinnige Leute haben die zerstreut herumliegenden
bunten Steinchen geprüft und an das Unversehrte gefügt, wie es eine correcte
Zeichnung zu erfordern schien; denn nicht blinde Willkür darf die Hand leiten,
welche an der Herstellung arbeitet; von zwei Seiten sind dem Belieben Schranken
gesetzt und ist Bürgschaft für die Richtigkeit des Geleisteten gegeben: kein
Steinchen darf übrig bleiben, also daß sich keine passende Stelle dafür finden
ließe, und was herauskommt, das müssen menschliche Gestalten, vielleicht in
fremdartiger, seltsamer Gewandung, mit ungewohnter Haltung und Geberde,
aber es müssen Menschen sein wie wir selbst.

Auf neu gewonnenes Material zu jener Arbeit hinzuweisen und anzudeuten,
wo dieses oder jenes Steinchen sich werde einfügen lassen, war die bescheidene
Aufgabe vorstehender Seiten.


Adolf Tobler.


LMes Verdienste um die Kunstgeschichte.

Dr. Wilhelm Lübke, Vorschule zum Studium der kirchlichen Kunst des deutschen
Mittelalters. Fünfte Auflage. Leipzig, Seemann. 1866.

I. N. Unserem Jahrhundert war es vorbehalten, das ganze Gebiet der
bildenden Kunst sowohl in seinem eigenen geschichtlichen Zusammenhange als
in seiner tieferen Bedeutung für das geistige Leben überhaupt zu erfassen. Man
mag über den Mangel der Zeit an unbefangener und ursprünglicher Schaffens¬
kraft klagen; dafür hat die kritische und geschichtliche Denkweise das ganze Dasein
durchzogen wie ein klares Wasser, das in seinem ruhigen gleichmäßigen Flusse
die Spiegelbilder der vergegangenen wie der gegenwärtigen Dinge auffängt.
Jetzt freilich scheint diese Arbeit der Gesittung und Bildung einer langen Friedens¬
zeit durch den tiefgreifenden Eintritt der jüngsten geschichtlichen Ereignisse an einen
Abschnitt gelangt, und möglich, daß nun neue Sitten und Anschauungen, damit
neue produktive Kräfte eine eigenthümliche Kunstepoche herausbringen. Immer«
hin wird dann der gründliche und einsichtige Fleiß, der mit den Schätzen der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/285>, abgerufen am 28.06.2024.