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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Wagen that er, als ob er den Staatsmann, der ihm viele Jahre treu und mit
Aufopferung gedient hatte, gar nicht sehe. Der so verabschiedete Minister trat
einige Monate später in östreichische Dienste.

Hr. v. Senfft gedachte zu ernten, wo er nicht gesät hatte. Während er
für Sachsen, das in sicherer Neutralität abwarten wollte, bis der Sieg entschie¬
den war, die Erhaltung aller Geschenke Napoleons und wohl gar noch eine
Machtvergrößernng in Anspruch nahm, gedachte er Preußen, welches für die
Abschüttelung des französischen Joches seine ganze Existenz einsetzte, das im un¬
glücklichen Kampfe früher Verlorene vorzuenthalten und wollte es auf den Stand¬
punkt einer Macht dritten Ranges Herabdrücken. Er verrechnete sich auch in so¬
fern, als er glaubte, Oestreich werde sich Sachsen zu Gefallen, das ihm doch
nur geringe militärische Streitkräfte zuführen konnte, bei Frankreich durch vor¬
zeitige Enthüllung seiner Politik compromittiren und die Aussicht auf die ihm
viel wichtigere Verbindung mit Preußen und Nußland aufgeben. Endlich ver¬
gaß er, daß Sachsens Macht viel zu gering war, um zwischen den streitenden
Parteien eine selbständige Rolle spielen zu können. Er mußte sich für die eine
Seite entscheiden aus die Gefahr hin, durch die Mißgunst des Geschickes auf
die verlierende zu gerathen. Allerdings trug der Entschluß, wohin er auch fallen
mochte, für Sachsen große Gefahren in seinem Schooß; wer aber in so kriti¬
schen Wendepunkten nichts aufs Spiel setzen will, kann nicht nur nichts gewin¬
nen, sondern wird nach der Entscheidung ein Spielball in der Hand der siegen¬
den Uebermacht. In allem tritt uns ein verhängnißvoller Charakterzug der
sächsischen Politik entgegen: man war zu zaghaft und zu schwankend im Ent¬
schluß, um bei günstiger Gelegenheit die früher durch eigne Schuld verlorene
Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen, und zu neidisch, um sie einem
Andern zu gönnen, der sie besser ausfüllen würde.




August Comte's politische Philosophie.

Herrschende Lehren sind oft nur die Spiegel vorherrschender Thatsacken.
Die Beschaffenheit des socialen Zustandes von England hat die pessimistische Volks¬
wirthschaftslehre der Malthus und Ricardo sowie überhaupt der englischen Schule
und ihres kontinentalen Gefolges hervorgerufen und bis jetzt aufrecht erhalten.


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Wagen that er, als ob er den Staatsmann, der ihm viele Jahre treu und mit
Aufopferung gedient hatte, gar nicht sehe. Der so verabschiedete Minister trat
einige Monate später in östreichische Dienste.

Hr. v. Senfft gedachte zu ernten, wo er nicht gesät hatte. Während er
für Sachsen, das in sicherer Neutralität abwarten wollte, bis der Sieg entschie¬
den war, die Erhaltung aller Geschenke Napoleons und wohl gar noch eine
Machtvergrößernng in Anspruch nahm, gedachte er Preußen, welches für die
Abschüttelung des französischen Joches seine ganze Existenz einsetzte, das im un¬
glücklichen Kampfe früher Verlorene vorzuenthalten und wollte es auf den Stand¬
punkt einer Macht dritten Ranges Herabdrücken. Er verrechnete sich auch in so¬
fern, als er glaubte, Oestreich werde sich Sachsen zu Gefallen, das ihm doch
nur geringe militärische Streitkräfte zuführen konnte, bei Frankreich durch vor¬
zeitige Enthüllung seiner Politik compromittiren und die Aussicht auf die ihm
viel wichtigere Verbindung mit Preußen und Nußland aufgeben. Endlich ver¬
gaß er, daß Sachsens Macht viel zu gering war, um zwischen den streitenden
Parteien eine selbständige Rolle spielen zu können. Er mußte sich für die eine
Seite entscheiden aus die Gefahr hin, durch die Mißgunst des Geschickes auf
die verlierende zu gerathen. Allerdings trug der Entschluß, wohin er auch fallen
mochte, für Sachsen große Gefahren in seinem Schooß; wer aber in so kriti¬
schen Wendepunkten nichts aufs Spiel setzen will, kann nicht nur nichts gewin¬
nen, sondern wird nach der Entscheidung ein Spielball in der Hand der siegen¬
den Uebermacht. In allem tritt uns ein verhängnißvoller Charakterzug der
sächsischen Politik entgegen: man war zu zaghaft und zu schwankend im Ent¬
schluß, um bei günstiger Gelegenheit die früher durch eigne Schuld verlorene
Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen, und zu neidisch, um sie einem
Andern zu gönnen, der sie besser ausfüllen würde.




August Comte's politische Philosophie.

Herrschende Lehren sind oft nur die Spiegel vorherrschender Thatsacken.
Die Beschaffenheit des socialen Zustandes von England hat die pessimistische Volks¬
wirthschaftslehre der Malthus und Ricardo sowie überhaupt der englischen Schule
und ihres kontinentalen Gefolges hervorgerufen und bis jetzt aufrecht erhalten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/263>, abgerufen am 29.06.2024.