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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Die politischen Ansichten sind in jüngster Zeit von einem ähnlichen Einfluß
heimgesucht worden. Auch auf dem rein politischen Gebiet scheint, wie auf dem
rein philosophischen, der Pessimismus in den Vordergrund treten zu wollen.
Könnten die Thatsachen wirklich die Einsichten widerlegen, und könnte eine
Vorübergehende Phase des Rückschritts gegen den Fortschritt beweisen, so hätten
wir allerdings Grund, den blasirten Auffassungen der bisher als Bürgschaften
der Freiheit betrachteten Institutionen nachzugeben. In Frankreich kann man
die Bewährung des constitutionellen Systems sicherlich nicht suchen; dort haben
bis jetzt alle Systeme Fiasco gemacht und auch das Cäsarenthum kann diesem
Schicksal nicht entgehen. Der restaurative Constitutionalismus, wie derjenige
der Julidynastie und die republikanischen Versuche -- alles ist den (Nahrungen
zum Opfer gefallen, die in der Tiefe der französischen Gesellschaft mit den
politischen Formen nur zu spielen scheinen, um die materiellen und socialen
Umgestaltungen und Läuterungen zu vollzieh". Es mußte selbst ein der Ten¬
denz dieser Währungen entsprechendes Princip, es mußte selbst eine Art Spieler-
thum. welches die Formalpolitik unter die materiellen Rücksichten beugt, an die
Reihe kommen, damit sich eine einigermaßen stetige Gewalt begründen konnte.
Unter solchen Verhältnissen ist es nun aber durchaus nicht überraschend, in dem
gegenwärtigen Frankreich sehr häufig einer achtungslosen Kritik des politischen
Formenwerks zu begegnen. Den Thatsachen sind die Theorien gefolgt, und der
Jinpcralismuö nährt mit Vorliebe diejenigen Doctrinen. welche höhnisch die Ohn¬
macht eines constitutionellen Regiments und die Unvereinbarkeit der alten Grund-
Principien desselben zu erweisen unternehmen. Der Fall des Constitutionalis¬
mus ist in Fräuleins eine vollendete Thatsache; aber auch schon bei uns be¬
ginnt man mit der Einfuhr einer eigenthümlichen Art anticvnstitutioneller Kri¬
tik und eines so zu sagen reactivncircn Radicalismus. Die Extreme beginnen,
sich in wirthschaftlicher und politischer Hinsicht die Hand zu reichen. Die fran¬
zösische Schule der innern Politik hat bekanntlich bei uns eine nachahme ge¬
funden, und man hat ein besonderes Gefallen daran, die Fundamentalformen
des verfassungsmäßigen Staatslebens mit einer gewissen vornehmen Nachlässig¬
keit zu betrachten und zu behandeln. Die Phase, in welche Preußen mit der
budgetloscn und, was noch mehr bedeuten will, mit einer "auf Verständigung"
mit dem Hauptfactor der Gesetzgebung "verzichtenden" Regierung getreten ist,
möchte auch theils einer pessimistischen, theils einer reactionären Kritik der
constitutionellen Lehren sehr günstig sein. Die halbvollendete Thatsache (vor
deren anderer Hälfte wir uns hoffentlich noch werden sichern können) ist für
schwache Gemüther, deren Gedanken sich stets unter dem Eindruck der vor¬
herrschenden Thatsachen bewegen, eine starke Versuchung, ihre politischen Ueber¬
zeugungen auch theoretisch aufzugeben. Von der officiösen Presse ist bekannt¬
lich selbst die Hilfe des ihr sonst so feindlichen Radicalismus auf wirthschaftlichem


Die politischen Ansichten sind in jüngster Zeit von einem ähnlichen Einfluß
heimgesucht worden. Auch auf dem rein politischen Gebiet scheint, wie auf dem
rein philosophischen, der Pessimismus in den Vordergrund treten zu wollen.
Könnten die Thatsachen wirklich die Einsichten widerlegen, und könnte eine
Vorübergehende Phase des Rückschritts gegen den Fortschritt beweisen, so hätten
wir allerdings Grund, den blasirten Auffassungen der bisher als Bürgschaften
der Freiheit betrachteten Institutionen nachzugeben. In Frankreich kann man
die Bewährung des constitutionellen Systems sicherlich nicht suchen; dort haben
bis jetzt alle Systeme Fiasco gemacht und auch das Cäsarenthum kann diesem
Schicksal nicht entgehen. Der restaurative Constitutionalismus, wie derjenige
der Julidynastie und die republikanischen Versuche — alles ist den (Nahrungen
zum Opfer gefallen, die in der Tiefe der französischen Gesellschaft mit den
politischen Formen nur zu spielen scheinen, um die materiellen und socialen
Umgestaltungen und Läuterungen zu vollzieh». Es mußte selbst ein der Ten¬
denz dieser Währungen entsprechendes Princip, es mußte selbst eine Art Spieler-
thum. welches die Formalpolitik unter die materiellen Rücksichten beugt, an die
Reihe kommen, damit sich eine einigermaßen stetige Gewalt begründen konnte.
Unter solchen Verhältnissen ist es nun aber durchaus nicht überraschend, in dem
gegenwärtigen Frankreich sehr häufig einer achtungslosen Kritik des politischen
Formenwerks zu begegnen. Den Thatsachen sind die Theorien gefolgt, und der
Jinpcralismuö nährt mit Vorliebe diejenigen Doctrinen. welche höhnisch die Ohn¬
macht eines constitutionellen Regiments und die Unvereinbarkeit der alten Grund-
Principien desselben zu erweisen unternehmen. Der Fall des Constitutionalis¬
mus ist in Fräuleins eine vollendete Thatsache; aber auch schon bei uns be¬
ginnt man mit der Einfuhr einer eigenthümlichen Art anticvnstitutioneller Kri¬
tik und eines so zu sagen reactivncircn Radicalismus. Die Extreme beginnen,
sich in wirthschaftlicher und politischer Hinsicht die Hand zu reichen. Die fran¬
zösische Schule der innern Politik hat bekanntlich bei uns eine nachahme ge¬
funden, und man hat ein besonderes Gefallen daran, die Fundamentalformen
des verfassungsmäßigen Staatslebens mit einer gewissen vornehmen Nachlässig¬
keit zu betrachten und zu behandeln. Die Phase, in welche Preußen mit der
budgetloscn und, was noch mehr bedeuten will, mit einer „auf Verständigung"
mit dem Hauptfactor der Gesetzgebung „verzichtenden" Regierung getreten ist,
möchte auch theils einer pessimistischen, theils einer reactionären Kritik der
constitutionellen Lehren sehr günstig sein. Die halbvollendete Thatsache (vor
deren anderer Hälfte wir uns hoffentlich noch werden sichern können) ist für
schwache Gemüther, deren Gedanken sich stets unter dem Eindruck der vor¬
herrschenden Thatsachen bewegen, eine starke Versuchung, ihre politischen Ueber¬
zeugungen auch theoretisch aufzugeben. Von der officiösen Presse ist bekannt¬
lich selbst die Hilfe des ihr sonst so feindlichen Radicalismus auf wirthschaftlichem


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[0264] Die politischen Ansichten sind in jüngster Zeit von einem ähnlichen Einfluß heimgesucht worden. Auch auf dem rein politischen Gebiet scheint, wie auf dem rein philosophischen, der Pessimismus in den Vordergrund treten zu wollen. Könnten die Thatsachen wirklich die Einsichten widerlegen, und könnte eine Vorübergehende Phase des Rückschritts gegen den Fortschritt beweisen, so hätten wir allerdings Grund, den blasirten Auffassungen der bisher als Bürgschaften der Freiheit betrachteten Institutionen nachzugeben. In Frankreich kann man die Bewährung des constitutionellen Systems sicherlich nicht suchen; dort haben bis jetzt alle Systeme Fiasco gemacht und auch das Cäsarenthum kann diesem Schicksal nicht entgehen. Der restaurative Constitutionalismus, wie derjenige der Julidynastie und die republikanischen Versuche — alles ist den (Nahrungen zum Opfer gefallen, die in der Tiefe der französischen Gesellschaft mit den politischen Formen nur zu spielen scheinen, um die materiellen und socialen Umgestaltungen und Läuterungen zu vollzieh». Es mußte selbst ein der Ten¬ denz dieser Währungen entsprechendes Princip, es mußte selbst eine Art Spieler- thum. welches die Formalpolitik unter die materiellen Rücksichten beugt, an die Reihe kommen, damit sich eine einigermaßen stetige Gewalt begründen konnte. Unter solchen Verhältnissen ist es nun aber durchaus nicht überraschend, in dem gegenwärtigen Frankreich sehr häufig einer achtungslosen Kritik des politischen Formenwerks zu begegnen. Den Thatsachen sind die Theorien gefolgt, und der Jinpcralismuö nährt mit Vorliebe diejenigen Doctrinen. welche höhnisch die Ohn¬ macht eines constitutionellen Regiments und die Unvereinbarkeit der alten Grund- Principien desselben zu erweisen unternehmen. Der Fall des Constitutionalis¬ mus ist in Fräuleins eine vollendete Thatsache; aber auch schon bei uns be¬ ginnt man mit der Einfuhr einer eigenthümlichen Art anticvnstitutioneller Kri¬ tik und eines so zu sagen reactivncircn Radicalismus. Die Extreme beginnen, sich in wirthschaftlicher und politischer Hinsicht die Hand zu reichen. Die fran¬ zösische Schule der innern Politik hat bekanntlich bei uns eine nachahme ge¬ funden, und man hat ein besonderes Gefallen daran, die Fundamentalformen des verfassungsmäßigen Staatslebens mit einer gewissen vornehmen Nachlässig¬ keit zu betrachten und zu behandeln. Die Phase, in welche Preußen mit der budgetloscn und, was noch mehr bedeuten will, mit einer „auf Verständigung" mit dem Hauptfactor der Gesetzgebung „verzichtenden" Regierung getreten ist, möchte auch theils einer pessimistischen, theils einer reactionären Kritik der constitutionellen Lehren sehr günstig sein. Die halbvollendete Thatsache (vor deren anderer Hälfte wir uns hoffentlich noch werden sichern können) ist für schwache Gemüther, deren Gedanken sich stets unter dem Eindruck der vor¬ herrschenden Thatsachen bewegen, eine starke Versuchung, ihre politischen Ueber¬ zeugungen auch theoretisch aufzugeben. Von der officiösen Presse ist bekannt¬ lich selbst die Hilfe des ihr sonst so feindlichen Radicalismus auf wirthschaftlichem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/264>, abgerufen am 01.07.2024.