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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Das englische Selfgovernment.
Dr. Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung
oder das Selfgovernment. Zweite völlig umgearbeitete Auflage, Berlin,
18K3. Verlag von Julius Springer. 1.

Ueber wenige Dinge herrscht eine so große Unklarheit und Verwirrung, als
über die Begriffe "Selfgovernment", "locale und communale Verwaltung", "Decen-
tralisation". "Autonomie der naturwüchsigen Glieder des Staatskörpers" und die
entsprechenden Gegensätze. Ein augenfälliger Beweis für diese Behauptung ist,
daß die angeführten Begriffe, die in der That nichts weniger als gleich¬
bedeutend sind, vielfach mit einander verwechselt werden, und daß ferner die
entgegengesetztesten politischen Systeme sich als die wahren Vertreter des Prin¬
cips der Decentralisation und des Selfgovernments proclamiren. Es ist nicht
in Abrede zu stellen, daß der Mißbrauch, der mit diesen Worten getrieben wird,
zum Theil auf tendenziöser Verdrehung und Entstellung der ihnen zu Grunde
liegenden Begriffe beruht. Wenn z. B. von einer Seite für gewisse corporative
Verbände ein in seiner Wirkung weit über den Kreis der incorporirten Elemente
hinausreichendes Selbstbestimmungsrecht gefordert wird, wenn gar eine be¬
stimmte Qualität des Besitzes im Namen der Decentralisation ein obrigkeit¬
liches Recht in Anspruch nimmt, so sieht man leicht, daß die Schlagwörter
"Selfgovernment". "Decentralisation", "Beschränkung der Bureaukratie" zum
Deckmantel für ganz andere, durchaus staatsfeindliche Bestrebungen dienen. Hier
ist der Mißbrauch der Worte handgreiflich. Aber es giebt auch ein naives Mi߬
verstehen derselben, das zu um so seltsameren Vorstellungen führt, da man nicht
nur die einzelnen Begriffe unrichtig auffaßt, sondern auch nach Bedürfniß den
einen derselben mit größter Unbefangenheit dem andern substituirt und auf diese
Art jede klare und solide Gedankenentwickelung unmöglich macht. Wir erinnern
beispielsweise nur an die völlige Unklarheit, die in Frankreich, wo daß Be¬
dürfniß nach Centralisation besonders groß ist, in dieser Beziehung herrscht;
indessen würde es auch nicht schwer sein, näher liegende Beispiele zu finden.

Sehr natürlich und gerechtfertigt ist es. daß man überall auf dem Con-


Grenzboten IV. 1864. 16
Das englische Selfgovernment.
Dr. Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung
oder das Selfgovernment. Zweite völlig umgearbeitete Auflage, Berlin,
18K3. Verlag von Julius Springer. 1.

Ueber wenige Dinge herrscht eine so große Unklarheit und Verwirrung, als
über die Begriffe „Selfgovernment", „locale und communale Verwaltung", „Decen-
tralisation". „Autonomie der naturwüchsigen Glieder des Staatskörpers" und die
entsprechenden Gegensätze. Ein augenfälliger Beweis für diese Behauptung ist,
daß die angeführten Begriffe, die in der That nichts weniger als gleich¬
bedeutend sind, vielfach mit einander verwechselt werden, und daß ferner die
entgegengesetztesten politischen Systeme sich als die wahren Vertreter des Prin¬
cips der Decentralisation und des Selfgovernments proclamiren. Es ist nicht
in Abrede zu stellen, daß der Mißbrauch, der mit diesen Worten getrieben wird,
zum Theil auf tendenziöser Verdrehung und Entstellung der ihnen zu Grunde
liegenden Begriffe beruht. Wenn z. B. von einer Seite für gewisse corporative
Verbände ein in seiner Wirkung weit über den Kreis der incorporirten Elemente
hinausreichendes Selbstbestimmungsrecht gefordert wird, wenn gar eine be¬
stimmte Qualität des Besitzes im Namen der Decentralisation ein obrigkeit¬
liches Recht in Anspruch nimmt, so sieht man leicht, daß die Schlagwörter
„Selfgovernment". „Decentralisation", „Beschränkung der Bureaukratie" zum
Deckmantel für ganz andere, durchaus staatsfeindliche Bestrebungen dienen. Hier
ist der Mißbrauch der Worte handgreiflich. Aber es giebt auch ein naives Mi߬
verstehen derselben, das zu um so seltsameren Vorstellungen führt, da man nicht
nur die einzelnen Begriffe unrichtig auffaßt, sondern auch nach Bedürfniß den
einen derselben mit größter Unbefangenheit dem andern substituirt und auf diese
Art jede klare und solide Gedankenentwickelung unmöglich macht. Wir erinnern
beispielsweise nur an die völlige Unklarheit, die in Frankreich, wo daß Be¬
dürfniß nach Centralisation besonders groß ist, in dieser Beziehung herrscht;
indessen würde es auch nicht schwer sein, näher liegende Beispiele zu finden.

Sehr natürlich und gerechtfertigt ist es. daß man überall auf dem Con-


Grenzboten IV. 1864. 16
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[0125] Das englische Selfgovernment. Dr. Rudolf Gneist, Geschichte und heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder das Selfgovernment. Zweite völlig umgearbeitete Auflage, Berlin, 18K3. Verlag von Julius Springer. 1. Ueber wenige Dinge herrscht eine so große Unklarheit und Verwirrung, als über die Begriffe „Selfgovernment", „locale und communale Verwaltung", „Decen- tralisation". „Autonomie der naturwüchsigen Glieder des Staatskörpers" und die entsprechenden Gegensätze. Ein augenfälliger Beweis für diese Behauptung ist, daß die angeführten Begriffe, die in der That nichts weniger als gleich¬ bedeutend sind, vielfach mit einander verwechselt werden, und daß ferner die entgegengesetztesten politischen Systeme sich als die wahren Vertreter des Prin¬ cips der Decentralisation und des Selfgovernments proclamiren. Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß der Mißbrauch, der mit diesen Worten getrieben wird, zum Theil auf tendenziöser Verdrehung und Entstellung der ihnen zu Grunde liegenden Begriffe beruht. Wenn z. B. von einer Seite für gewisse corporative Verbände ein in seiner Wirkung weit über den Kreis der incorporirten Elemente hinausreichendes Selbstbestimmungsrecht gefordert wird, wenn gar eine be¬ stimmte Qualität des Besitzes im Namen der Decentralisation ein obrigkeit¬ liches Recht in Anspruch nimmt, so sieht man leicht, daß die Schlagwörter „Selfgovernment". „Decentralisation", „Beschränkung der Bureaukratie" zum Deckmantel für ganz andere, durchaus staatsfeindliche Bestrebungen dienen. Hier ist der Mißbrauch der Worte handgreiflich. Aber es giebt auch ein naives Mi߬ verstehen derselben, das zu um so seltsameren Vorstellungen führt, da man nicht nur die einzelnen Begriffe unrichtig auffaßt, sondern auch nach Bedürfniß den einen derselben mit größter Unbefangenheit dem andern substituirt und auf diese Art jede klare und solide Gedankenentwickelung unmöglich macht. Wir erinnern beispielsweise nur an die völlige Unklarheit, die in Frankreich, wo daß Be¬ dürfniß nach Centralisation besonders groß ist, in dieser Beziehung herrscht; indessen würde es auch nicht schwer sein, näher liegende Beispiele zu finden. Sehr natürlich und gerechtfertigt ist es. daß man überall auf dem Con- Grenzboten IV. 1864. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/125>, abgerufen am 28.09.2024.