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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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graph das in der Ordnung zu finden scheint, so wollen wir ihm sagen, worauf
dies in seinen leptcn Konsequenzen ungefähr hinaus kommt und was der
Grundirrthum seines ganzen Buchs ist.

In Kairo begegnet man nicht selten Derwischen oder Fakirs, denen es ge¬
lungen ist, sich durch fleißige Uebung,den Zustand frommen Blödsinns bleibend
zu erwerben, Und die nun für "Santons", Heilige gelten, obwohl sie in der
Regel ein sehr unheiliges Aussehen haben und Äußerst bedenkliche Gelüste an
den Tag legen, alle Gebote des Islam übertreten, Weiber mißhandeln, Possen
unzüchtigster Sorte reißen, alle Welt verspotten und schimpfen, nackt umher¬
laufen. K oth und Häckerling essen u. s. w. Niemand stößt sich daran; denn man
nimmt an, daß ihre Seele bei Gott sei, und entschuldigt es, wenn der gleich-
giltige bei solcher Entrückung des Willens ohne Aufsicht gelassene Körper sich
unsauber und unschicklich aufführt. Man redet sie mit Ehrentiteln wie "Schech"
oder "Murebid" an und sieht in ihnen "Welis", Günstlinge Allahs (in die
abendländische Anschauung übersehe: Genies), die sich über die gewöhnliche
Menschheit erhoben haben, diese verachten und übel tractiren können.

Soweit sich dies unter deutscher Sonne, die weniger als die ägyptische
mit Sonnenstich droht, unter protestantischen Volk des neunzehnten Jahrhun¬
derts und an den Wirthötafeln der guten Stadt Frankfurt nachahmen läßt, hat
Schopenhauer hierzu ein Seitenstück geliefert, und er bat Leute gefunden, die
ihm glauben, daß es nur der Rock war, der gegen fast alle Begriffe von Würde,
Pietät und edler Denkart verstieß, nicht der wahre Schopenhauer, der die
Welt als Wille und Borstellung schrieb. Das ist die "Moral", die wir dem
neuen Evangelium entnehmen.

Wir aber wollen von solchem westöstlichen Derwischthum nichts wisse".


M. B.


Unsere Klerikalen verlassen allmälig die Winterquartiere und bereiten sich
zu einem heftigen Frühlingskampfe vor. Diesesmal gilt es nicht blos der An-
siedlung der Protestanten auf dem heiligen Boden des Bischofs von Brixen,
sondern wichtigere Angelegenheiten; der Entwurf des Rcligionsedictes läßt un-


graph das in der Ordnung zu finden scheint, so wollen wir ihm sagen, worauf
dies in seinen leptcn Konsequenzen ungefähr hinaus kommt und was der
Grundirrthum seines ganzen Buchs ist.

In Kairo begegnet man nicht selten Derwischen oder Fakirs, denen es ge¬
lungen ist, sich durch fleißige Uebung,den Zustand frommen Blödsinns bleibend
zu erwerben, Und die nun für „Santons", Heilige gelten, obwohl sie in der
Regel ein sehr unheiliges Aussehen haben und Äußerst bedenkliche Gelüste an
den Tag legen, alle Gebote des Islam übertreten, Weiber mißhandeln, Possen
unzüchtigster Sorte reißen, alle Welt verspotten und schimpfen, nackt umher¬
laufen. K oth und Häckerling essen u. s. w. Niemand stößt sich daran; denn man
nimmt an, daß ihre Seele bei Gott sei, und entschuldigt es, wenn der gleich-
giltige bei solcher Entrückung des Willens ohne Aufsicht gelassene Körper sich
unsauber und unschicklich aufführt. Man redet sie mit Ehrentiteln wie „Schech"
oder „Murebid" an und sieht in ihnen „Welis", Günstlinge Allahs (in die
abendländische Anschauung übersehe: Genies), die sich über die gewöhnliche
Menschheit erhoben haben, diese verachten und übel tractiren können.

Soweit sich dies unter deutscher Sonne, die weniger als die ägyptische
mit Sonnenstich droht, unter protestantischen Volk des neunzehnten Jahrhun¬
derts und an den Wirthötafeln der guten Stadt Frankfurt nachahmen läßt, hat
Schopenhauer hierzu ein Seitenstück geliefert, und er bat Leute gefunden, die
ihm glauben, daß es nur der Rock war, der gegen fast alle Begriffe von Würde,
Pietät und edler Denkart verstieß, nicht der wahre Schopenhauer, der die
Welt als Wille und Borstellung schrieb. Das ist die „Moral", die wir dem
neuen Evangelium entnehmen.

Wir aber wollen von solchem westöstlichen Derwischthum nichts wisse».


M. B.


Unsere Klerikalen verlassen allmälig die Winterquartiere und bereiten sich
zu einem heftigen Frühlingskampfe vor. Diesesmal gilt es nicht blos der An-
siedlung der Protestanten auf dem heiligen Boden des Bischofs von Brixen,
sondern wichtigere Angelegenheiten; der Entwurf des Rcligionsedictes läßt un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/198>, abgerufen am 05.01.2025.