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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Bedürfniß vorhanden, und nichts steht in schrofferem GegensaK z" allen Be¬
strebungen der Gegenwart, als der Quietismus und das Eremitenthum, die
Schopenhauer uns predigt, und auf die er selbst schwerlich in so exorbitantem
Grade verfallen sein würde, wenn sich ihm zu rechter Zeit eine Professur dar¬
geboten hätte.

Gwinner selbst läßt gelegentlich durchblicken, daß es schwer ist, die Wider¬
sprüche im Leben seines Halbgottes zu erklären. Für ihn scheint ihm dies ziem¬
lich gelungen zu sein. Für uns, welche die Freundschaft nicht blendete,
ist es mißlungen. Wir sehen in seinem ..Urbild" nichts Anderes als das "Zerr¬
bild", über das er sich beklagt- einen begabten, nach gewissen Seiten unge¬
wöhnlich scharfsinnigen Geist, aber zugleich ein krankes Gemüth, ein enges, dürres,
verbittertes Herz, ein Vornehmthun, das an SeMvergötterung streift, einen
Splitterrichter, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht, einen polternden
Feigling. Die Menschenverachtung Schopenhauers als Heimweh des Genius
deuten, ist mystische Täuschung, eine Philosophie, welcher die Erde ein
Jammerthal ist und die gleichwohl ohne behaglichstes' Versorgtsein ihres
Begründers nicht entstanden wäre, consequent finden, ist sinnlos. Das Buch
ist eine Krankengeschichte, die im Ton eines Evangeliums vorgetragen wird.

Philister über Dir, Simson! -- So könnten die Junger Schopenhauers
bei diesem Resultat unsrer Betrachtung ihrem Meister in das selige Nirwana
nachrufen. Mögen sie's thun. Wir nehmen den Philisternamen in Sachen
der Sittlichkeit als Ehrennamen an und gestatten, so viel an uns ist, nicht,
daß man dem Talent eine create Stellung über der Sphäre des Gewissens
gebe, wir würden dies auch dann nicht gestatten, wenn der Weltweise von
Frankfurt wirklich das Genie wäre, welches die Mode in einigen Kreisen aus
ihm gemacht hat. Die Tage, wo dies in Deutschland erlaubt war, sind Gott
Lob vorüber, und in diesem Sinne hat Herr Gwinner Rechf, wenn er meint,
daß ,,die deutsche Welt nicht eingerichtet ist für Genies."

Das Buch erzählt, daß Schopenhauer einmal geäußert, wie er sich bis¬
weilen irrthümlich für einen Andern gehalten, "z. B. für einen Privatdocenten,
der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser
Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten
in jenem (oben angeführten) Insurienprocesse, oder für den Liebhaber, den jenes
Mädchen, auf das er capricirt ist, nicht erhören will, oder für den Patienten,
den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andrere ähnliche Personen, die an
ähnlichen Missren laboriren. Das Alles sei er nicht gewesen, das Alles sei
fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen sei, den er eine
Weile getragen und dann gegen einen andern abgelegt habe. Wer aber sei er
denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom
großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben habe," Wenn sein Bio-


Bedürfniß vorhanden, und nichts steht in schrofferem GegensaK z» allen Be¬
strebungen der Gegenwart, als der Quietismus und das Eremitenthum, die
Schopenhauer uns predigt, und auf die er selbst schwerlich in so exorbitantem
Grade verfallen sein würde, wenn sich ihm zu rechter Zeit eine Professur dar¬
geboten hätte.

Gwinner selbst läßt gelegentlich durchblicken, daß es schwer ist, die Wider¬
sprüche im Leben seines Halbgottes zu erklären. Für ihn scheint ihm dies ziem¬
lich gelungen zu sein. Für uns, welche die Freundschaft nicht blendete,
ist es mißlungen. Wir sehen in seinem ..Urbild" nichts Anderes als das „Zerr¬
bild", über das er sich beklagt- einen begabten, nach gewissen Seiten unge¬
wöhnlich scharfsinnigen Geist, aber zugleich ein krankes Gemüth, ein enges, dürres,
verbittertes Herz, ein Vornehmthun, das an SeMvergötterung streift, einen
Splitterrichter, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht, einen polternden
Feigling. Die Menschenverachtung Schopenhauers als Heimweh des Genius
deuten, ist mystische Täuschung, eine Philosophie, welcher die Erde ein
Jammerthal ist und die gleichwohl ohne behaglichstes' Versorgtsein ihres
Begründers nicht entstanden wäre, consequent finden, ist sinnlos. Das Buch
ist eine Krankengeschichte, die im Ton eines Evangeliums vorgetragen wird.

Philister über Dir, Simson! — So könnten die Junger Schopenhauers
bei diesem Resultat unsrer Betrachtung ihrem Meister in das selige Nirwana
nachrufen. Mögen sie's thun. Wir nehmen den Philisternamen in Sachen
der Sittlichkeit als Ehrennamen an und gestatten, so viel an uns ist, nicht,
daß man dem Talent eine create Stellung über der Sphäre des Gewissens
gebe, wir würden dies auch dann nicht gestatten, wenn der Weltweise von
Frankfurt wirklich das Genie wäre, welches die Mode in einigen Kreisen aus
ihm gemacht hat. Die Tage, wo dies in Deutschland erlaubt war, sind Gott
Lob vorüber, und in diesem Sinne hat Herr Gwinner Rechf, wenn er meint,
daß ,,die deutsche Welt nicht eingerichtet ist für Genies."

Das Buch erzählt, daß Schopenhauer einmal geäußert, wie er sich bis¬
weilen irrthümlich für einen Andern gehalten, „z. B. für einen Privatdocenten,
der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser
Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten
in jenem (oben angeführten) Insurienprocesse, oder für den Liebhaber, den jenes
Mädchen, auf das er capricirt ist, nicht erhören will, oder für den Patienten,
den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andrere ähnliche Personen, die an
ähnlichen Missren laboriren. Das Alles sei er nicht gewesen, das Alles sei
fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen sei, den er eine
Weile getragen und dann gegen einen andern abgelegt habe. Wer aber sei er
denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom
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[0197] Bedürfniß vorhanden, und nichts steht in schrofferem GegensaK z» allen Be¬ strebungen der Gegenwart, als der Quietismus und das Eremitenthum, die Schopenhauer uns predigt, und auf die er selbst schwerlich in so exorbitantem Grade verfallen sein würde, wenn sich ihm zu rechter Zeit eine Professur dar¬ geboten hätte. Gwinner selbst läßt gelegentlich durchblicken, daß es schwer ist, die Wider¬ sprüche im Leben seines Halbgottes zu erklären. Für ihn scheint ihm dies ziem¬ lich gelungen zu sein. Für uns, welche die Freundschaft nicht blendete, ist es mißlungen. Wir sehen in seinem ..Urbild" nichts Anderes als das „Zerr¬ bild", über das er sich beklagt- einen begabten, nach gewissen Seiten unge¬ wöhnlich scharfsinnigen Geist, aber zugleich ein krankes Gemüth, ein enges, dürres, verbittertes Herz, ein Vornehmthun, das an SeMvergötterung streift, einen Splitterrichter, der den Balken im eigenen Auge nicht sieht, einen polternden Feigling. Die Menschenverachtung Schopenhauers als Heimweh des Genius deuten, ist mystische Täuschung, eine Philosophie, welcher die Erde ein Jammerthal ist und die gleichwohl ohne behaglichstes' Versorgtsein ihres Begründers nicht entstanden wäre, consequent finden, ist sinnlos. Das Buch ist eine Krankengeschichte, die im Ton eines Evangeliums vorgetragen wird. Philister über Dir, Simson! — So könnten die Junger Schopenhauers bei diesem Resultat unsrer Betrachtung ihrem Meister in das selige Nirwana nachrufen. Mögen sie's thun. Wir nehmen den Philisternamen in Sachen der Sittlichkeit als Ehrennamen an und gestatten, so viel an uns ist, nicht, daß man dem Talent eine create Stellung über der Sphäre des Gewissens gebe, wir würden dies auch dann nicht gestatten, wenn der Weltweise von Frankfurt wirklich das Genie wäre, welches die Mode in einigen Kreisen aus ihm gemacht hat. Die Tage, wo dies in Deutschland erlaubt war, sind Gott Lob vorüber, und in diesem Sinne hat Herr Gwinner Rechf, wenn er meint, daß ,,die deutsche Welt nicht eingerichtet ist für Genies." Das Buch erzählt, daß Schopenhauer einmal geäußert, wie er sich bis¬ weilen irrthümlich für einen Andern gehalten, „z. B. für einen Privatdocenten, der nicht Professor wird und keine Zuhörer hat, oder für einen, von dem dieser Philister schlecht redet und jene Kaffeeschwester klatscht, oder für den Beklagten in jenem (oben angeführten) Insurienprocesse, oder für den Liebhaber, den jenes Mädchen, auf das er capricirt ist, nicht erhören will, oder für den Patienten, den seine Krankheit zu Hause hält, oder für andrere ähnliche Personen, die an ähnlichen Missren laboriren. Das Alles sei er nicht gewesen, das Alles sei fremder Stoff, aus dem höchstens der Rock gemacht gewesen sei, den er eine Weile getragen und dann gegen einen andern abgelegt habe. Wer aber sei er denn? Der, welcher die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben und vom großen Problem des Daseins eine Lösung gegeben habe," Wenn sein Bio-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/197>, abgerufen am 06.01.2025.