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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Verschwiegenheit, damit Niemand von dem bürgerlichen Reis auf dem hohen
Stammbaum erfahre.

Seit die selige Electa bei Se. Benedict auf dem Hradschin filzt, vermin¬
derte sich die einst große Zahl ihrer Besucher gar sehr. Der weite Weg auf
dem Hradschin ist manchem Andächtigen und manchem Neugierigen zu weit.
Wenn man die Mumie Electa's sehen will, trete man an ein vergittertes, mit grü¬
nen Vorhängen verhängtes Fenster, rechts vom Hochaltar der Benedictskirche,
und ziehe an der hier befindlichen Klingel. Ein Schlurren von Sandalen be¬
lehrt uns, daß sich die "Wärterin der seligen Electa" nahe. Wärterin ist der
althergebrachte Kunstausdruck für jede Nonne, deren Amt es ist, bei der seligen
Electa den Dienst zu thun. Auf die leise Frage, was man wünsche? und die
Antwort "die selige Electa zu sehen", rauscht der grüne Vorhang auf und man
erblickt die dürre, braune Mumie einer Greisin in einem Lehnstuhl sitzen, sie ist
mit der Kutte einer Karmeliterin bekleidet und trägt auf dem Haupt einen
Blumenkranz. Das Halbdunkel, welches im Gemach herrscht, läßt uns eben
noch zur Noth die scharfen Züge der Mumie erkennen. Die dienstthuende
Nonne, dicht verschleiert, recitirt monoton und mit leiser, flüsternder Stimme
einige Daten über die "gottselige Mutter Electa", von welchen wir lange nicht
die Hälfte verstehen. Zum Schlüsse ihrer Erzählung spricht die Nonne etwas
lauter: "Die gottselige Mutter wird einen Segen ertheilen!" und huscht hin¬
ter die Mumie, welche nun die dürre Rechte segnend erhebt. Der Vorhang
rauscht zu, und aus dem Gemach Electa's hört man entweder das Fortschlurren
von Sandalen oder ein leises, eintöniges Gebet. Ob die selige Electa noch
jetzt in diesen ungläubigen Zeiten heilkräftig Oel schwitze, vermochten wir nicht
zu erfahren, ja wir hatten nicht einmal den Muth, uns bei der Kirchenwäsche¬
rin, die in derlei Dingen unstreitig Bescheid weiß, zu erkundigen, ob das Klo¬
ster vielleicht noch einigen alten Vorrath von Oelflecklcin auf dem Lager habe.

Die Stunden, in welchen die "Mutter Electa" bei Se. Benedict gezeigt
wird, finden sich in keinem Fremdenführer, doch erfuhren wir aus eigener Ueber¬
zeugung, daß dieselbe Vormittags in der Regel leichter sichtbar sei als nach
Tische.


Auf dem Wysehrad.

Kein Fremder sollte Prag verlassen, ohne den treuen Paladin der hundert-
thürmigen Moldaustadt besucht zu haben, den'grauen Wysehrad. Einst "des Lan¬
des Sonne", der vielbesungene "goldene Sitz" der fürstlichen Seherin Libussa, dann
geschmückt mit einem glanzvollen Königsschlosse und dreizehn ."schönen, köstlichen"
Kirchen, spiegelt er jetzt traurig sein beinahe kahles Haupt in den Silberfluthen der
Moldau, die zu seinen Füßen rauscht. Von all der alten gepriesenen Herrlichkeit ist


Grenzboten II. 1S62. 14

Verschwiegenheit, damit Niemand von dem bürgerlichen Reis auf dem hohen
Stammbaum erfahre.

Seit die selige Electa bei Se. Benedict auf dem Hradschin filzt, vermin¬
derte sich die einst große Zahl ihrer Besucher gar sehr. Der weite Weg auf
dem Hradschin ist manchem Andächtigen und manchem Neugierigen zu weit.
Wenn man die Mumie Electa's sehen will, trete man an ein vergittertes, mit grü¬
nen Vorhängen verhängtes Fenster, rechts vom Hochaltar der Benedictskirche,
und ziehe an der hier befindlichen Klingel. Ein Schlurren von Sandalen be¬
lehrt uns, daß sich die „Wärterin der seligen Electa" nahe. Wärterin ist der
althergebrachte Kunstausdruck für jede Nonne, deren Amt es ist, bei der seligen
Electa den Dienst zu thun. Auf die leise Frage, was man wünsche? und die
Antwort „die selige Electa zu sehen", rauscht der grüne Vorhang auf und man
erblickt die dürre, braune Mumie einer Greisin in einem Lehnstuhl sitzen, sie ist
mit der Kutte einer Karmeliterin bekleidet und trägt auf dem Haupt einen
Blumenkranz. Das Halbdunkel, welches im Gemach herrscht, läßt uns eben
noch zur Noth die scharfen Züge der Mumie erkennen. Die dienstthuende
Nonne, dicht verschleiert, recitirt monoton und mit leiser, flüsternder Stimme
einige Daten über die „gottselige Mutter Electa", von welchen wir lange nicht
die Hälfte verstehen. Zum Schlüsse ihrer Erzählung spricht die Nonne etwas
lauter: „Die gottselige Mutter wird einen Segen ertheilen!" und huscht hin¬
ter die Mumie, welche nun die dürre Rechte segnend erhebt. Der Vorhang
rauscht zu, und aus dem Gemach Electa's hört man entweder das Fortschlurren
von Sandalen oder ein leises, eintöniges Gebet. Ob die selige Electa noch
jetzt in diesen ungläubigen Zeiten heilkräftig Oel schwitze, vermochten wir nicht
zu erfahren, ja wir hatten nicht einmal den Muth, uns bei der Kirchenwäsche¬
rin, die in derlei Dingen unstreitig Bescheid weiß, zu erkundigen, ob das Klo¬
ster vielleicht noch einigen alten Vorrath von Oelflecklcin auf dem Lager habe.

Die Stunden, in welchen die „Mutter Electa" bei Se. Benedict gezeigt
wird, finden sich in keinem Fremdenführer, doch erfuhren wir aus eigener Ueber¬
zeugung, daß dieselbe Vormittags in der Regel leichter sichtbar sei als nach
Tische.


Auf dem Wysehrad.

Kein Fremder sollte Prag verlassen, ohne den treuen Paladin der hundert-
thürmigen Moldaustadt besucht zu haben, den'grauen Wysehrad. Einst „des Lan¬
des Sonne", der vielbesungene „goldene Sitz" der fürstlichen Seherin Libussa, dann
geschmückt mit einem glanzvollen Königsschlosse und dreizehn .»schönen, köstlichen"
Kirchen, spiegelt er jetzt traurig sein beinahe kahles Haupt in den Silberfluthen der
Moldau, die zu seinen Füßen rauscht. Von all der alten gepriesenen Herrlichkeit ist


Grenzboten II. 1S62. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/113>, abgerufen am 05.01.2025.