Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Die neueste Entwickelung der preußischen Schnlregulative.

Die orthopädische Kunst, aus verkrüppelten Kindern wohlgebildete Gestal¬
ten zu machen, wird mit anerkennenswerther Beharrlichkeit vom preußischen
Cultusministerium geübt, indem sich dasselbe ununterbrochen damit beschäftigt,
eins der mißgeborensten Erzeugnisse unserer Zeit, die drei preußischen Schul¬
regulative vom Jahre 1854. allmälig von ihren ursprünglichen Gebrechen, zu
befreien. Einige vom Minister unter dem 16. Februar d. I. an die Regie¬
rungen und Schulcollcgicn erlassene Verordnungen bezeichnen das neueste
Stadium dieses merkwürdigen Processes.

Wem es in diesen Dingen nicht um Principien zu thun ist. dem wird
mit der neuesten Interpretation der berüchtigten Gesetze ein Gefallen geschehen
sein. Einige der auffälligsten, dem Zeitgeist am meisten widersprechenden Be¬
stimmungen sind aufgehoben, Manches wenigstens gemildert. Es ist nicht
ohne Interesse, dieß Verfahren einmal zu überblicken. Gibt sich doch der be¬
rühmte Vater der Regulative. Herr Geheimrath sticht, alle mögliche Mühe
das Publicum davon zu überzeugen, daß sein Werk gut war -- wahrend sich
zugleich die erheblichsten Nachbesserungen als nothwendig erweisen ("Die Wei¬
terentwicklung der drei preußischen Regulative u. s. w. von sticht. Berlin
1861"). -- Vor Allem wird muthmnßlich die Freude in der preußischen Volks¬
vertretung groß sein. Nachdem das Haus der Abgeordneten in der Sitzung
vom 21. Mai 1860 erklärt hat. daß der einseitige Erlaß eines Gesetzes, wel-
ches die bisher herrschenden Principien des preußischen Schulwesens einfach
auf den Kopf stellt, für verfassungswidrig nicht zu erachten und demsel-ben nur
einige Verminderung des darin festgesetzten religiösen Memorirstvffö, so wie
eine Steigerung der übrigen Anforderungen an die Lehrer und an die Schule
Zu wünschen sei, -- würden die Herrn Deputaten inconsequent sein, wollten sie
sich jetzt nicht völlig zufrieden geben. --

Es waren besonders folgende Bestimmungen, welche beim ersten Bekannt¬
werden der Regulative am meisten anstießen. Einmal ist in denselben ein un-.
verhältnißmäßiges Gewicht auf den Religionsunterricht und zwar auf die con-
fessionelle Seite desselben sowie auf Auswendiglernen eines außerordentlich
großen Memorirstoffes gelegt. Die Schulkinder sollen die ganze biblische Ge¬
schichte nach dem Wortlaute der Luther'schen Uebersetzung erzählen lernen, und
mindestens 30 Kirchenlieder und 18 Psalmen, von den biblischen Perikopen we¬
nigstens die Sonntags-Evangelien, außerdem die Hauptstücke und Erklärungen
kleinen lutherischen Katechismus, eine Anzahl Bibelstellen (ihre Zahl wurde


Die neueste Entwickelung der preußischen Schnlregulative.

Die orthopädische Kunst, aus verkrüppelten Kindern wohlgebildete Gestal¬
ten zu machen, wird mit anerkennenswerther Beharrlichkeit vom preußischen
Cultusministerium geübt, indem sich dasselbe ununterbrochen damit beschäftigt,
eins der mißgeborensten Erzeugnisse unserer Zeit, die drei preußischen Schul¬
regulative vom Jahre 1854. allmälig von ihren ursprünglichen Gebrechen, zu
befreien. Einige vom Minister unter dem 16. Februar d. I. an die Regie¬
rungen und Schulcollcgicn erlassene Verordnungen bezeichnen das neueste
Stadium dieses merkwürdigen Processes.

Wem es in diesen Dingen nicht um Principien zu thun ist. dem wird
mit der neuesten Interpretation der berüchtigten Gesetze ein Gefallen geschehen
sein. Einige der auffälligsten, dem Zeitgeist am meisten widersprechenden Be¬
stimmungen sind aufgehoben, Manches wenigstens gemildert. Es ist nicht
ohne Interesse, dieß Verfahren einmal zu überblicken. Gibt sich doch der be¬
rühmte Vater der Regulative. Herr Geheimrath sticht, alle mögliche Mühe
das Publicum davon zu überzeugen, daß sein Werk gut war — wahrend sich
zugleich die erheblichsten Nachbesserungen als nothwendig erweisen („Die Wei¬
terentwicklung der drei preußischen Regulative u. s. w. von sticht. Berlin
1861"). — Vor Allem wird muthmnßlich die Freude in der preußischen Volks¬
vertretung groß sein. Nachdem das Haus der Abgeordneten in der Sitzung
vom 21. Mai 1860 erklärt hat. daß der einseitige Erlaß eines Gesetzes, wel-
ches die bisher herrschenden Principien des preußischen Schulwesens einfach
auf den Kopf stellt, für verfassungswidrig nicht zu erachten und demsel-ben nur
einige Verminderung des darin festgesetzten religiösen Memorirstvffö, so wie
eine Steigerung der übrigen Anforderungen an die Lehrer und an die Schule
Zu wünschen sei, — würden die Herrn Deputaten inconsequent sein, wollten sie
sich jetzt nicht völlig zufrieden geben. —

Es waren besonders folgende Bestimmungen, welche beim ersten Bekannt¬
werden der Regulative am meisten anstießen. Einmal ist in denselben ein un-.
verhältnißmäßiges Gewicht auf den Religionsunterricht und zwar auf die con-
fessionelle Seite desselben sowie auf Auswendiglernen eines außerordentlich
großen Memorirstoffes gelegt. Die Schulkinder sollen die ganze biblische Ge¬
schichte nach dem Wortlaute der Luther'schen Uebersetzung erzählen lernen, und
mindestens 30 Kirchenlieder und 18 Psalmen, von den biblischen Perikopen we¬
nigstens die Sonntags-Evangelien, außerdem die Hauptstücke und Erklärungen
kleinen lutherischen Katechismus, eine Anzahl Bibelstellen (ihre Zahl wurde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111791"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die neueste Entwickelung der preußischen Schnlregulative.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1166"> Die orthopädische Kunst, aus verkrüppelten Kindern wohlgebildete Gestal¬<lb/>
ten zu machen, wird mit anerkennenswerther Beharrlichkeit vom preußischen<lb/>
Cultusministerium geübt, indem sich dasselbe ununterbrochen damit beschäftigt,<lb/>
eins der mißgeborensten Erzeugnisse unserer Zeit, die drei preußischen Schul¬<lb/>
regulative vom Jahre 1854. allmälig von ihren ursprünglichen Gebrechen, zu<lb/>
befreien. Einige vom Minister unter dem 16. Februar d. I. an die Regie¬<lb/>
rungen und Schulcollcgicn erlassene Verordnungen bezeichnen das neueste<lb/>
Stadium dieses merkwürdigen Processes.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1167"> Wem es in diesen Dingen nicht um Principien zu thun ist. dem wird<lb/>
mit der neuesten Interpretation der berüchtigten Gesetze ein Gefallen geschehen<lb/>
sein. Einige der auffälligsten, dem Zeitgeist am meisten widersprechenden Be¬<lb/>
stimmungen sind aufgehoben, Manches wenigstens gemildert. Es ist nicht<lb/>
ohne Interesse, dieß Verfahren einmal zu überblicken. Gibt sich doch der be¬<lb/>
rühmte Vater der Regulative. Herr Geheimrath sticht, alle mögliche Mühe<lb/>
das Publicum davon zu überzeugen, daß sein Werk gut war &#x2014; wahrend sich<lb/>
zugleich die erheblichsten Nachbesserungen als nothwendig erweisen (&#x201E;Die Wei¬<lb/>
terentwicklung der drei preußischen Regulative u. s. w. von sticht. Berlin<lb/>
1861"). &#x2014; Vor Allem wird muthmnßlich die Freude in der preußischen Volks¬<lb/>
vertretung groß sein. Nachdem das Haus der Abgeordneten in der Sitzung<lb/>
vom 21. Mai 1860 erklärt hat. daß der einseitige Erlaß eines Gesetzes, wel-<lb/>
ches die bisher herrschenden Principien des preußischen Schulwesens einfach<lb/>
auf den Kopf stellt, für verfassungswidrig nicht zu erachten und demsel-ben nur<lb/>
einige Verminderung des darin festgesetzten religiösen Memorirstvffö, so wie<lb/>
eine Steigerung der übrigen Anforderungen an die Lehrer und an die Schule<lb/>
Zu wünschen sei, &#x2014; würden die Herrn Deputaten inconsequent sein, wollten sie<lb/>
sich jetzt nicht völlig zufrieden geben. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1168" next="#ID_1169"> Es waren besonders folgende Bestimmungen, welche beim ersten Bekannt¬<lb/>
werden der Regulative am meisten anstießen. Einmal ist in denselben ein un-.<lb/>
verhältnißmäßiges Gewicht auf den Religionsunterricht und zwar auf die con-<lb/>
fessionelle Seite desselben sowie auf Auswendiglernen eines außerordentlich<lb/>
großen Memorirstoffes gelegt. Die Schulkinder sollen die ganze biblische Ge¬<lb/>
schichte nach dem Wortlaute der Luther'schen Uebersetzung erzählen lernen, und<lb/>
mindestens 30 Kirchenlieder und 18 Psalmen, von den biblischen Perikopen we¬<lb/>
nigstens die Sonntags-Evangelien, außerdem die Hauptstücke und Erklärungen<lb/>
kleinen lutherischen Katechismus, eine Anzahl Bibelstellen (ihre Zahl wurde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Die neueste Entwickelung der preußischen Schnlregulative. Die orthopädische Kunst, aus verkrüppelten Kindern wohlgebildete Gestal¬ ten zu machen, wird mit anerkennenswerther Beharrlichkeit vom preußischen Cultusministerium geübt, indem sich dasselbe ununterbrochen damit beschäftigt, eins der mißgeborensten Erzeugnisse unserer Zeit, die drei preußischen Schul¬ regulative vom Jahre 1854. allmälig von ihren ursprünglichen Gebrechen, zu befreien. Einige vom Minister unter dem 16. Februar d. I. an die Regie¬ rungen und Schulcollcgicn erlassene Verordnungen bezeichnen das neueste Stadium dieses merkwürdigen Processes. Wem es in diesen Dingen nicht um Principien zu thun ist. dem wird mit der neuesten Interpretation der berüchtigten Gesetze ein Gefallen geschehen sein. Einige der auffälligsten, dem Zeitgeist am meisten widersprechenden Be¬ stimmungen sind aufgehoben, Manches wenigstens gemildert. Es ist nicht ohne Interesse, dieß Verfahren einmal zu überblicken. Gibt sich doch der be¬ rühmte Vater der Regulative. Herr Geheimrath sticht, alle mögliche Mühe das Publicum davon zu überzeugen, daß sein Werk gut war — wahrend sich zugleich die erheblichsten Nachbesserungen als nothwendig erweisen („Die Wei¬ terentwicklung der drei preußischen Regulative u. s. w. von sticht. Berlin 1861"). — Vor Allem wird muthmnßlich die Freude in der preußischen Volks¬ vertretung groß sein. Nachdem das Haus der Abgeordneten in der Sitzung vom 21. Mai 1860 erklärt hat. daß der einseitige Erlaß eines Gesetzes, wel- ches die bisher herrschenden Principien des preußischen Schulwesens einfach auf den Kopf stellt, für verfassungswidrig nicht zu erachten und demsel-ben nur einige Verminderung des darin festgesetzten religiösen Memorirstvffö, so wie eine Steigerung der übrigen Anforderungen an die Lehrer und an die Schule Zu wünschen sei, — würden die Herrn Deputaten inconsequent sein, wollten sie sich jetzt nicht völlig zufrieden geben. — Es waren besonders folgende Bestimmungen, welche beim ersten Bekannt¬ werden der Regulative am meisten anstießen. Einmal ist in denselben ein un-. verhältnißmäßiges Gewicht auf den Religionsunterricht und zwar auf die con- fessionelle Seite desselben sowie auf Auswendiglernen eines außerordentlich großen Memorirstoffes gelegt. Die Schulkinder sollen die ganze biblische Ge¬ schichte nach dem Wortlaute der Luther'schen Uebersetzung erzählen lernen, und mindestens 30 Kirchenlieder und 18 Psalmen, von den biblischen Perikopen we¬ nigstens die Sonntags-Evangelien, außerdem die Hauptstücke und Erklärungen kleinen lutherischen Katechismus, eine Anzahl Bibelstellen (ihre Zahl wurde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/359>, abgerufen am 28.06.2024.