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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Sie starb. 82 Jahr alt, 12. Mai 1843; außer "Charlotte", ihrer "Wahr¬
heit und Dichtung", hinterließ sie noch einen Roman ..Cornelie". der aber
seiner schwerfälligen Sprache wegen unlesbar ist. Nach allen Berichten der
Zeitgenossen wäre es unstatthaft, von diesem geschraubten, unnatürlichen und
unschönen Stil auf ihren Umgang zu schließen. Sie war eine bedeutende,
und in der Hauptsache gute Frau; aber ihre Schicksale lassen kein anderes
Gefühl in uns aufkommen, als das tiefe Bedauern, daß unklare sittliche Ver¬
hältnisse und verkehrte Begriffe über das Recht der Individualität ein Leben
zerrütteten, das, in dem bestimmten Kreis realer Pflichten umschrieben, Segen
und Frucht über alle Umgebungen verbreitet haben würde. Nicht Schwingen,
sich über die Wirklichkeit zu erheben, sondern Innigkeit, sich in sie zu ver¬
tiefen, macht das Glück des Weibes.




Rußlands Heeresmacht.

Seit dem pariser Frieden haben die öffentlichen Blätter consequent nur von
Reduction der russischen Armee gemeldet und als Nebenmelodie den Fortschritt
der Reorganisation des gesammten Heerwesens bewundert, welche schon vor
dem Frieden, unmittelbar nach Alexanders Thronbesteigung begonnen hat.
Darin, daß die Nachrichten von den Reductionen noch bis vor wenigen Wochen
fortdauerten, liegt der deutlichste Beweis, daß sie noch nicht überall durchge¬
führt sind, wobei selbstverständlich an die abgesonderten Corps im Kaukasus
und Finnland, in Ostsibirien, Orenburg mit Samara!) gar nicht zu denken. Sie
bilden selbstständige Armeen mit eigner, abgetrennter Verwaltung und kommen
bei einer aggressiven Politik Rußlands in Europa nicht zur Verwendung. Je¬
denfalls hat aber Rußland nach dem pariser Frieden verhältnißmäßig stärker
reducirt, als die übrigen Großmächte; jedoch eben blos verhältnißmäßig. ^
Noch weniger als die Reductionen sind die Reorganisationen und Umformungen
vollendet. Dies wäre bei einer Armee vom Umfange der russischen unter al¬
len Umständen in der seit dem Frieden bis heute abgelaufenen Frist ein Werk
der Unmöglichkeit; bei der russischen Centralisation und bei der Gleichzeitigkeit
der kolossalen Reformarbeiten auf allen anderen Gebieten des Staatslebens
ist es gradezu undenkbar. Den besten Abschluß muß aber die Reorganisation
durch die Umgestaltung des Nekrutirungssystems finden, und diese muß bis nach


Sie starb. 82 Jahr alt, 12. Mai 1843; außer „Charlotte", ihrer „Wahr¬
heit und Dichtung", hinterließ sie noch einen Roman ..Cornelie". der aber
seiner schwerfälligen Sprache wegen unlesbar ist. Nach allen Berichten der
Zeitgenossen wäre es unstatthaft, von diesem geschraubten, unnatürlichen und
unschönen Stil auf ihren Umgang zu schließen. Sie war eine bedeutende,
und in der Hauptsache gute Frau; aber ihre Schicksale lassen kein anderes
Gefühl in uns aufkommen, als das tiefe Bedauern, daß unklare sittliche Ver¬
hältnisse und verkehrte Begriffe über das Recht der Individualität ein Leben
zerrütteten, das, in dem bestimmten Kreis realer Pflichten umschrieben, Segen
und Frucht über alle Umgebungen verbreitet haben würde. Nicht Schwingen,
sich über die Wirklichkeit zu erheben, sondern Innigkeit, sich in sie zu ver¬
tiefen, macht das Glück des Weibes.




Rußlands Heeresmacht.

Seit dem pariser Frieden haben die öffentlichen Blätter consequent nur von
Reduction der russischen Armee gemeldet und als Nebenmelodie den Fortschritt
der Reorganisation des gesammten Heerwesens bewundert, welche schon vor
dem Frieden, unmittelbar nach Alexanders Thronbesteigung begonnen hat.
Darin, daß die Nachrichten von den Reductionen noch bis vor wenigen Wochen
fortdauerten, liegt der deutlichste Beweis, daß sie noch nicht überall durchge¬
führt sind, wobei selbstverständlich an die abgesonderten Corps im Kaukasus
und Finnland, in Ostsibirien, Orenburg mit Samara!) gar nicht zu denken. Sie
bilden selbstständige Armeen mit eigner, abgetrennter Verwaltung und kommen
bei einer aggressiven Politik Rußlands in Europa nicht zur Verwendung. Je¬
denfalls hat aber Rußland nach dem pariser Frieden verhältnißmäßig stärker
reducirt, als die übrigen Großmächte; jedoch eben blos verhältnißmäßig. ^
Noch weniger als die Reductionen sind die Reorganisationen und Umformungen
vollendet. Dies wäre bei einer Armee vom Umfange der russischen unter al¬
len Umständen in der seit dem Frieden bis heute abgelaufenen Frist ein Werk
der Unmöglichkeit; bei der russischen Centralisation und bei der Gleichzeitigkeit
der kolossalen Reformarbeiten auf allen anderen Gebieten des Staatslebens
ist es gradezu undenkbar. Den besten Abschluß muß aber die Reorganisation
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[0350] Sie starb. 82 Jahr alt, 12. Mai 1843; außer „Charlotte", ihrer „Wahr¬ heit und Dichtung", hinterließ sie noch einen Roman ..Cornelie". der aber seiner schwerfälligen Sprache wegen unlesbar ist. Nach allen Berichten der Zeitgenossen wäre es unstatthaft, von diesem geschraubten, unnatürlichen und unschönen Stil auf ihren Umgang zu schließen. Sie war eine bedeutende, und in der Hauptsache gute Frau; aber ihre Schicksale lassen kein anderes Gefühl in uns aufkommen, als das tiefe Bedauern, daß unklare sittliche Ver¬ hältnisse und verkehrte Begriffe über das Recht der Individualität ein Leben zerrütteten, das, in dem bestimmten Kreis realer Pflichten umschrieben, Segen und Frucht über alle Umgebungen verbreitet haben würde. Nicht Schwingen, sich über die Wirklichkeit zu erheben, sondern Innigkeit, sich in sie zu ver¬ tiefen, macht das Glück des Weibes. Rußlands Heeresmacht. Seit dem pariser Frieden haben die öffentlichen Blätter consequent nur von Reduction der russischen Armee gemeldet und als Nebenmelodie den Fortschritt der Reorganisation des gesammten Heerwesens bewundert, welche schon vor dem Frieden, unmittelbar nach Alexanders Thronbesteigung begonnen hat. Darin, daß die Nachrichten von den Reductionen noch bis vor wenigen Wochen fortdauerten, liegt der deutlichste Beweis, daß sie noch nicht überall durchge¬ führt sind, wobei selbstverständlich an die abgesonderten Corps im Kaukasus und Finnland, in Ostsibirien, Orenburg mit Samara!) gar nicht zu denken. Sie bilden selbstständige Armeen mit eigner, abgetrennter Verwaltung und kommen bei einer aggressiven Politik Rußlands in Europa nicht zur Verwendung. Je¬ denfalls hat aber Rußland nach dem pariser Frieden verhältnißmäßig stärker reducirt, als die übrigen Großmächte; jedoch eben blos verhältnißmäßig. ^ Noch weniger als die Reductionen sind die Reorganisationen und Umformungen vollendet. Dies wäre bei einer Armee vom Umfange der russischen unter al¬ len Umständen in der seit dem Frieden bis heute abgelaufenen Frist ein Werk der Unmöglichkeit; bei der russischen Centralisation und bei der Gleichzeitigkeit der kolossalen Reformarbeiten auf allen anderen Gebieten des Staatslebens ist es gradezu undenkbar. Den besten Abschluß muß aber die Reorganisation durch die Umgestaltung des Nekrutirungssystems finden, und diese muß bis nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/350>, abgerufen am 22.12.2024.