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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Müller.

Der Briefwechsel, welcher die Jahre 1800--1829 umfaßt, gehört zu den
interessantesten Erscheinungen der letzten Jahre. Zwar in politischer Beziehung
erfahren wir nicht viel Neues daraus, aber zur Pathologie des Zeitalters, zur
Kenntniß jener moralischen Krankheiten, aus denen die politischen Wirren
hauptsächlich hervorgegangen sind, sind diese Mittheilungen von großer Wich¬
tigkeit. In den zahlreichen Korrespondenzen, die von Gentz bereits publicirt
sind, wüßten wir keine, in denen er sich so unbefangen, mit so vollständiger
Naturtreue abzeichnete; denn Johannes von Müller oder Rahel gegenüber
spielt er doch immer eine gewisse Rolle, d. h. er lügt nicht etwa, -- denn so
sonderbar es klingen mag, es hat selten einen wahrheitsliebenden Menschen
gegeben als Gentz -- aber er steigert seine Empfindungen diesen Personen gegen¬
über zu einer Höhe, die an die äußerste Grenze seiner Fähigkeit geht, und
wir lernen nur die Ausnahmezustände seiner Seele kennen. Gegen Adam
Müller hatte er das nicht nöthig. An Alter, Bildung und Geist ihm be¬
deutend überlegen, von dem jüngern Manne angeschwärmt, konnte er sich in
seiner vollen Natur ihm Preis geben, und führte das auch mit einer seltenen
Virtuosität durch. Je zahlreicher die Widersprüche in diesen Briefen sind, desto
sicherer können wir uns auf ihre innere Wahrheit verlassen. Auf den ersten
Augenblick kann es freilich sonderbar erscheinen, wie dieser helle klare Kopf,
der die wüsten Phantasiebilder seines ergebenen Freundes zuweilen mit un¬
barmherziger Analyse zerlegt, dennoch so viel Interesse, ja zuweilen so viel
Begeisterung zeigt. Aber abgesehen davon, daß auch für den ruhigsten Ver¬
stand ein Anbeter immer eine interessante Erscheinung ist, daß Gentz bei der
Heftigkeit seines Temperaments sich stets in Superlativen ausdrückt, liegt da¬
rin die Romantik seiner Natur. Der nüchterne Nationalismus, der gewöhnlich
sein Denken charakterisirt, verlangte nach einer Ergänzung, und er blickte auf
Adam Müller, auf Görres und ähnliche Figuren, wenn sie ihn auch im ge¬
wöhnlichen Leben zur Verzweiflung brachten, wenn er auch seine Ironie ihnen
gegenüber fast nie unterdrücken konnte, doch mit einem gewissen Neid. Die


Grenzboten. II. -I8S7. 36
Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Müller.

Der Briefwechsel, welcher die Jahre 1800—1829 umfaßt, gehört zu den
interessantesten Erscheinungen der letzten Jahre. Zwar in politischer Beziehung
erfahren wir nicht viel Neues daraus, aber zur Pathologie des Zeitalters, zur
Kenntniß jener moralischen Krankheiten, aus denen die politischen Wirren
hauptsächlich hervorgegangen sind, sind diese Mittheilungen von großer Wich¬
tigkeit. In den zahlreichen Korrespondenzen, die von Gentz bereits publicirt
sind, wüßten wir keine, in denen er sich so unbefangen, mit so vollständiger
Naturtreue abzeichnete; denn Johannes von Müller oder Rahel gegenüber
spielt er doch immer eine gewisse Rolle, d. h. er lügt nicht etwa, — denn so
sonderbar es klingen mag, es hat selten einen wahrheitsliebenden Menschen
gegeben als Gentz — aber er steigert seine Empfindungen diesen Personen gegen¬
über zu einer Höhe, die an die äußerste Grenze seiner Fähigkeit geht, und
wir lernen nur die Ausnahmezustände seiner Seele kennen. Gegen Adam
Müller hatte er das nicht nöthig. An Alter, Bildung und Geist ihm be¬
deutend überlegen, von dem jüngern Manne angeschwärmt, konnte er sich in
seiner vollen Natur ihm Preis geben, und führte das auch mit einer seltenen
Virtuosität durch. Je zahlreicher die Widersprüche in diesen Briefen sind, desto
sicherer können wir uns auf ihre innere Wahrheit verlassen. Auf den ersten
Augenblick kann es freilich sonderbar erscheinen, wie dieser helle klare Kopf,
der die wüsten Phantasiebilder seines ergebenen Freundes zuweilen mit un¬
barmherziger Analyse zerlegt, dennoch so viel Interesse, ja zuweilen so viel
Begeisterung zeigt. Aber abgesehen davon, daß auch für den ruhigsten Ver¬
stand ein Anbeter immer eine interessante Erscheinung ist, daß Gentz bei der
Heftigkeit seines Temperaments sich stets in Superlativen ausdrückt, liegt da¬
rin die Romantik seiner Natur. Der nüchterne Nationalismus, der gewöhnlich
sein Denken charakterisirt, verlangte nach einer Ergänzung, und er blickte auf
Adam Müller, auf Görres und ähnliche Figuren, wenn sie ihn auch im ge¬
wöhnlichen Leben zur Verzweiflung brachten, wenn er auch seine Ironie ihnen
gegenüber fast nie unterdrücken konnte, doch mit einem gewissen Neid. Die


Grenzboten. II. -I8S7. 36
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[0289] Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Müller. Der Briefwechsel, welcher die Jahre 1800—1829 umfaßt, gehört zu den interessantesten Erscheinungen der letzten Jahre. Zwar in politischer Beziehung erfahren wir nicht viel Neues daraus, aber zur Pathologie des Zeitalters, zur Kenntniß jener moralischen Krankheiten, aus denen die politischen Wirren hauptsächlich hervorgegangen sind, sind diese Mittheilungen von großer Wich¬ tigkeit. In den zahlreichen Korrespondenzen, die von Gentz bereits publicirt sind, wüßten wir keine, in denen er sich so unbefangen, mit so vollständiger Naturtreue abzeichnete; denn Johannes von Müller oder Rahel gegenüber spielt er doch immer eine gewisse Rolle, d. h. er lügt nicht etwa, — denn so sonderbar es klingen mag, es hat selten einen wahrheitsliebenden Menschen gegeben als Gentz — aber er steigert seine Empfindungen diesen Personen gegen¬ über zu einer Höhe, die an die äußerste Grenze seiner Fähigkeit geht, und wir lernen nur die Ausnahmezustände seiner Seele kennen. Gegen Adam Müller hatte er das nicht nöthig. An Alter, Bildung und Geist ihm be¬ deutend überlegen, von dem jüngern Manne angeschwärmt, konnte er sich in seiner vollen Natur ihm Preis geben, und führte das auch mit einer seltenen Virtuosität durch. Je zahlreicher die Widersprüche in diesen Briefen sind, desto sicherer können wir uns auf ihre innere Wahrheit verlassen. Auf den ersten Augenblick kann es freilich sonderbar erscheinen, wie dieser helle klare Kopf, der die wüsten Phantasiebilder seines ergebenen Freundes zuweilen mit un¬ barmherziger Analyse zerlegt, dennoch so viel Interesse, ja zuweilen so viel Begeisterung zeigt. Aber abgesehen davon, daß auch für den ruhigsten Ver¬ stand ein Anbeter immer eine interessante Erscheinung ist, daß Gentz bei der Heftigkeit seines Temperaments sich stets in Superlativen ausdrückt, liegt da¬ rin die Romantik seiner Natur. Der nüchterne Nationalismus, der gewöhnlich sein Denken charakterisirt, verlangte nach einer Ergänzung, und er blickte auf Adam Müller, auf Görres und ähnliche Figuren, wenn sie ihn auch im ge¬ wöhnlichen Leben zur Verzweiflung brachten, wenn er auch seine Ironie ihnen gegenüber fast nie unterdrücken konnte, doch mit einem gewissen Neid. Die Grenzboten. II. -I8S7. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/289>, abgerufen am 27.07.2024.