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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Gabe der Weissagung wäre ihm gar nicht unbequem gewesen, und wenn er
mehrmals versichert, er habe auss eifrigste nach dem Glauben gerungen, so
ist das ganz ernsthaft gemeint, nur daß er freilich immer so ehrlich war, ein¬
zugestehen, sein Ringen sei vergebens gewesen. Er drückt sich über sein Ver¬
hältniß zu Müller gleich in einem der ersten der Briefe -1803 ziemlich klar
aus: "Ich hin selbst innig überzeugt, daß wir, um etwas Gutes zu wirken,
miteinander leben müssen. Sie allein sind den äußern Schwierigkeiten dieses
harten Zeitalters nicht gewachsen; und ich muß schlechterdings etwas haben,
was mich unaufhörlich über das Zeitalter erhebt, wenn ich nicht endlich sinken
soll." Mit andern Worten, der eingefleischte Realist und Weltmann hat eine
geheime Kammer seines Herzens, die sich nach Idealismus sehnt; da er aber
nicht stark genug U, Ideale zu finden, lehnt er sich an Phantasten, so wenig
das Schwankende einer solchen Stütze seinem Scharfblick entgeht.

Für jeden Menschen, dessen Leben und Denken man im Detail verfolgt,
gewinnt man ein gewisses Interesse, und so geht es uns auch mit diesen
beiden Sophisten. In der Zeit, wo sie von Einfluß waren, mußte freilich-
jedes andere Gefühl als das der Erbitterung verstummen; jetzt aber, wo man sie'
ganz objectiv betrachten kann, machen sie sehr häufig einen komischen, zuweilen
einen rührenden Eindruck. Bei Gentz versteht sich die Theilnahme von selbst.
Aus dem Umgang eines hochgebildeten und trotz aller Bildung naiven Mannes
kann man immer lernen; aber selbst ein so verschrobener Phantast wie Müller
imponirt durch die Zähigkeit, durch die innerliche Leidenschaft, mit der er an
seinen Visionen festhält. Freilich ist jeder Schwärmer bis zu einem gewissen
Grad auch ein Schwindler, und wer nicht im Stande ist, ein einziges wahres
Wort zu sagen (das war Müller in der That nicht, weil er nie einen klaren
Gedanken ehrlich auszudenken vermochte), wird mitunter lügen; aber es ist
doch nicht jene gemeine Lüge, die man mit einfacher Brandmarkung zu strafen
hat. Dör Zeitgenosse von Görres, Arnim, Steffens, Brentano, Schubert :c.
ist, wie gesagt, ein wichtiger Beitrag für die Pathologie des Zeitalters.

Vielleicht wird Manchen der -Ausdruck "komisch" befremden, den wir
vorher angewandt haben, aber man erwäge Folgendes. Schon in dem Brief¬
wechsel der Nadel wird man mitunter außer Fassung gesetzt, wenn diese Herren
und Damen jeden Brief mit einer Schilderung des Wetters eröffnen, und
von dieser Schilderung des Wetters gar nicht -wieder loskommen, wenn daS
Wetter ihre ganze Stimmung so vollständig determinirt, daß ihre Seele alle
Freiheit verliert, daß sie sich lediglich als ein krankhaftes Phänomen der phy¬
sischen Mächte darstellt. Diese Wetterbeobachtungen nehmen in dem vorlie¬
genden Briefwechsel etwa den vierten Theil deS Raumes ein. Wenn irgendwo
ein Gewitter ausbricht, gerathen die beiden Herren sofort in -eine Todesangst,
sie fürchten den Ausbruch eines Erdbebens, den Untergang der Welt, sie sehen


Gabe der Weissagung wäre ihm gar nicht unbequem gewesen, und wenn er
mehrmals versichert, er habe auss eifrigste nach dem Glauben gerungen, so
ist das ganz ernsthaft gemeint, nur daß er freilich immer so ehrlich war, ein¬
zugestehen, sein Ringen sei vergebens gewesen. Er drückt sich über sein Ver¬
hältniß zu Müller gleich in einem der ersten der Briefe -1803 ziemlich klar
aus: „Ich hin selbst innig überzeugt, daß wir, um etwas Gutes zu wirken,
miteinander leben müssen. Sie allein sind den äußern Schwierigkeiten dieses
harten Zeitalters nicht gewachsen; und ich muß schlechterdings etwas haben,
was mich unaufhörlich über das Zeitalter erhebt, wenn ich nicht endlich sinken
soll." Mit andern Worten, der eingefleischte Realist und Weltmann hat eine
geheime Kammer seines Herzens, die sich nach Idealismus sehnt; da er aber
nicht stark genug U, Ideale zu finden, lehnt er sich an Phantasten, so wenig
das Schwankende einer solchen Stütze seinem Scharfblick entgeht.

Für jeden Menschen, dessen Leben und Denken man im Detail verfolgt,
gewinnt man ein gewisses Interesse, und so geht es uns auch mit diesen
beiden Sophisten. In der Zeit, wo sie von Einfluß waren, mußte freilich-
jedes andere Gefühl als das der Erbitterung verstummen; jetzt aber, wo man sie'
ganz objectiv betrachten kann, machen sie sehr häufig einen komischen, zuweilen
einen rührenden Eindruck. Bei Gentz versteht sich die Theilnahme von selbst.
Aus dem Umgang eines hochgebildeten und trotz aller Bildung naiven Mannes
kann man immer lernen; aber selbst ein so verschrobener Phantast wie Müller
imponirt durch die Zähigkeit, durch die innerliche Leidenschaft, mit der er an
seinen Visionen festhält. Freilich ist jeder Schwärmer bis zu einem gewissen
Grad auch ein Schwindler, und wer nicht im Stande ist, ein einziges wahres
Wort zu sagen (das war Müller in der That nicht, weil er nie einen klaren
Gedanken ehrlich auszudenken vermochte), wird mitunter lügen; aber es ist
doch nicht jene gemeine Lüge, die man mit einfacher Brandmarkung zu strafen
hat. Dör Zeitgenosse von Görres, Arnim, Steffens, Brentano, Schubert :c.
ist, wie gesagt, ein wichtiger Beitrag für die Pathologie des Zeitalters.

Vielleicht wird Manchen der -Ausdruck „komisch" befremden, den wir
vorher angewandt haben, aber man erwäge Folgendes. Schon in dem Brief¬
wechsel der Nadel wird man mitunter außer Fassung gesetzt, wenn diese Herren
und Damen jeden Brief mit einer Schilderung des Wetters eröffnen, und
von dieser Schilderung des Wetters gar nicht -wieder loskommen, wenn daS
Wetter ihre ganze Stimmung so vollständig determinirt, daß ihre Seele alle
Freiheit verliert, daß sie sich lediglich als ein krankhaftes Phänomen der phy¬
sischen Mächte darstellt. Diese Wetterbeobachtungen nehmen in dem vorlie¬
genden Briefwechsel etwa den vierten Theil deS Raumes ein. Wenn irgendwo
ein Gewitter ausbricht, gerathen die beiden Herren sofort in -eine Todesangst,
sie fürchten den Ausbruch eines Erdbebens, den Untergang der Welt, sie sehen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/290>, abgerufen am 27.07.2024.