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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Jahrhunderts lassen sich in unserer Nachbarschaft noch folgende Ueberreste der
alten Malfahrt erkennen. In Ravensburg galt das Tuthenfest, in Hall das
Ruthensühren, im Frankfurt am Main daS Stabenführen, in Ulm der Berg.
Jedes Kind bekam da sein neues Gerüste (Anzug), welches Bergkleid hieß,
und besonders geputzte Mädchen nennt man dorten noch halbscherzend Berg¬
engelchen. Man zog auf die nächsten Waldboden und tanzte. Als dies ab¬
kam, führte der Schulmeister seine Kinder erst in die Kirche und dann ins
Schießhaus. --

Das große Cadettenfest von 1856 ist bekannt. Nicht so bekannt dürfte
die Thatsache sein, daß auch in Deuschland einst ähnliche Knabenaufzüge,
wie die, aus welchen die schweizerischen Cadettenfeste hervorgingen, stattgefun¬
den haben. Wir erinnern nur an den Steckenreiteraufzug, mit dem Nürnberg
am 22. Juni 16S0 den Abschluß des westphälischen Friedens feierte.

Es kamen dabei nicht weniger als 1i76 Knaben der bessern Stände
auf ihren Steckenpferden vor das Haus des kaiserlichen CommissarS Piccolo-
mini, Herzogs von Amalfi geritten. Derselbe erwies der reisigen Schar eine
ebenso ausgesuchte Gegenehre. Für jeden dieser wunderlichen Reiter ließ er
einen silbernen Friedenspfennig prägen, von denen noch jetzt Exemplare übrig
sein sollen. Auf der einen Seite ist ein Knabe mit einer Mütze bedeckt auf
dem Steckenpferde reitend und um das Viereck ist zu lesen: Friedengedächtnuß
in Unruh., auf der andern Seite befindet sich der gekrönte Doppeladler mit
der Inschrift Viv. Ferd. III. Rom. Jay.

Als dann ein Spaßvogel unter den Gassenbuben die Nachricht verbreitete,
auch sie würden mit solchen Münzen beschenkt werden, wenn sie am folgenden
Sonntag den Ritt nachahmten, so erschien am gemachten Tage wirklich ein
noch größeres Geschwader von Steckenpserdreitern vor der Wohnung des
Fürsten. Piccolomini lachte herzlich und bestellte die Kinder über acht Tage
wieder; da ritten sie in großen Scharen, in förmliche Schwadronen abgetheilt,
vor ihm auf und empfingen gleichfalls jeder seine Denkmünze.




Korrespondenzen.
London

Der neue Lesesaal im British Museum. - Cob-
bett sagte einmal: Bei uns Engländern ist alles königlich. Wir haben eine königliche
Flotte, ein königliches Heer, königliche Paläste :c.; dem Volke aber gehört aus¬
schließlich die Nationalschuld, sie heißt allein Nuuon"! clein, während alles andere
Royal ist. Wer längere Zeit in England gelebt hat, der weiß in der That aus
eigner Anschauung, mit welcher Vorliebe sich die Industrie des "Royal" bemächtigt
hat. Es gibt einen "königlichen" Schuhputzerjungenverein, dessen Mitglieder sich


Jahrhunderts lassen sich in unserer Nachbarschaft noch folgende Ueberreste der
alten Malfahrt erkennen. In Ravensburg galt das Tuthenfest, in Hall das
Ruthensühren, im Frankfurt am Main daS Stabenführen, in Ulm der Berg.
Jedes Kind bekam da sein neues Gerüste (Anzug), welches Bergkleid hieß,
und besonders geputzte Mädchen nennt man dorten noch halbscherzend Berg¬
engelchen. Man zog auf die nächsten Waldboden und tanzte. Als dies ab¬
kam, führte der Schulmeister seine Kinder erst in die Kirche und dann ins
Schießhaus. —

Das große Cadettenfest von 1856 ist bekannt. Nicht so bekannt dürfte
die Thatsache sein, daß auch in Deuschland einst ähnliche Knabenaufzüge,
wie die, aus welchen die schweizerischen Cadettenfeste hervorgingen, stattgefun¬
den haben. Wir erinnern nur an den Steckenreiteraufzug, mit dem Nürnberg
am 22. Juni 16S0 den Abschluß des westphälischen Friedens feierte.

Es kamen dabei nicht weniger als 1i76 Knaben der bessern Stände
auf ihren Steckenpferden vor das Haus des kaiserlichen CommissarS Piccolo-
mini, Herzogs von Amalfi geritten. Derselbe erwies der reisigen Schar eine
ebenso ausgesuchte Gegenehre. Für jeden dieser wunderlichen Reiter ließ er
einen silbernen Friedenspfennig prägen, von denen noch jetzt Exemplare übrig
sein sollen. Auf der einen Seite ist ein Knabe mit einer Mütze bedeckt auf
dem Steckenpferde reitend und um das Viereck ist zu lesen: Friedengedächtnuß
in Unruh., auf der andern Seite befindet sich der gekrönte Doppeladler mit
der Inschrift Viv. Ferd. III. Rom. Jay.

Als dann ein Spaßvogel unter den Gassenbuben die Nachricht verbreitete,
auch sie würden mit solchen Münzen beschenkt werden, wenn sie am folgenden
Sonntag den Ritt nachahmten, so erschien am gemachten Tage wirklich ein
noch größeres Geschwader von Steckenpserdreitern vor der Wohnung des
Fürsten. Piccolomini lachte herzlich und bestellte die Kinder über acht Tage
wieder; da ritten sie in großen Scharen, in förmliche Schwadronen abgetheilt,
vor ihm auf und empfingen gleichfalls jeder seine Denkmünze.




Korrespondenzen.
London

Der neue Lesesaal im British Museum. - Cob-
bett sagte einmal: Bei uns Engländern ist alles königlich. Wir haben eine königliche
Flotte, ein königliches Heer, königliche Paläste :c.; dem Volke aber gehört aus¬
schließlich die Nationalschuld, sie heißt allein Nuuon»! clein, während alles andere
Royal ist. Wer längere Zeit in England gelebt hat, der weiß in der That aus
eigner Anschauung, mit welcher Vorliebe sich die Industrie des „Royal" bemächtigt
hat. Es gibt einen „königlichen" Schuhputzerjungenverein, dessen Mitglieder sich


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[0278] Jahrhunderts lassen sich in unserer Nachbarschaft noch folgende Ueberreste der alten Malfahrt erkennen. In Ravensburg galt das Tuthenfest, in Hall das Ruthensühren, im Frankfurt am Main daS Stabenführen, in Ulm der Berg. Jedes Kind bekam da sein neues Gerüste (Anzug), welches Bergkleid hieß, und besonders geputzte Mädchen nennt man dorten noch halbscherzend Berg¬ engelchen. Man zog auf die nächsten Waldboden und tanzte. Als dies ab¬ kam, führte der Schulmeister seine Kinder erst in die Kirche und dann ins Schießhaus. — Das große Cadettenfest von 1856 ist bekannt. Nicht so bekannt dürfte die Thatsache sein, daß auch in Deuschland einst ähnliche Knabenaufzüge, wie die, aus welchen die schweizerischen Cadettenfeste hervorgingen, stattgefun¬ den haben. Wir erinnern nur an den Steckenreiteraufzug, mit dem Nürnberg am 22. Juni 16S0 den Abschluß des westphälischen Friedens feierte. Es kamen dabei nicht weniger als 1i76 Knaben der bessern Stände auf ihren Steckenpferden vor das Haus des kaiserlichen CommissarS Piccolo- mini, Herzogs von Amalfi geritten. Derselbe erwies der reisigen Schar eine ebenso ausgesuchte Gegenehre. Für jeden dieser wunderlichen Reiter ließ er einen silbernen Friedenspfennig prägen, von denen noch jetzt Exemplare übrig sein sollen. Auf der einen Seite ist ein Knabe mit einer Mütze bedeckt auf dem Steckenpferde reitend und um das Viereck ist zu lesen: Friedengedächtnuß in Unruh., auf der andern Seite befindet sich der gekrönte Doppeladler mit der Inschrift Viv. Ferd. III. Rom. Jay. Als dann ein Spaßvogel unter den Gassenbuben die Nachricht verbreitete, auch sie würden mit solchen Münzen beschenkt werden, wenn sie am folgenden Sonntag den Ritt nachahmten, so erschien am gemachten Tage wirklich ein noch größeres Geschwader von Steckenpserdreitern vor der Wohnung des Fürsten. Piccolomini lachte herzlich und bestellte die Kinder über acht Tage wieder; da ritten sie in großen Scharen, in förmliche Schwadronen abgetheilt, vor ihm auf und empfingen gleichfalls jeder seine Denkmünze. Korrespondenzen. London Der neue Lesesaal im British Museum. - Cob- bett sagte einmal: Bei uns Engländern ist alles königlich. Wir haben eine königliche Flotte, ein königliches Heer, königliche Paläste :c.; dem Volke aber gehört aus¬ schließlich die Nationalschuld, sie heißt allein Nuuon»! clein, während alles andere Royal ist. Wer längere Zeit in England gelebt hat, der weiß in der That aus eigner Anschauung, mit welcher Vorliebe sich die Industrie des „Royal" bemächtigt hat. Es gibt einen „königlichen" Schuhputzerjungenverein, dessen Mitglieder sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/278>, abgerufen am 27.07.2024.