Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Preußen und England.
Geschichte der preußischen Politik von I. G. Droysen. Zweiter Theil.
Die territoriale Zeit. Erste Abtheilung. Berlin, Veit u. Como. 1857. --
Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England mit Einschluß
des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats von Dr. Rudolph
Gneist. Berlin, I. Springer. 1837. --

Man hat vielfältig die Scheidelinie festzustellen gesucht, welche das Talent
des Geschichtschreibers von dem deS Dichters trennt. Daß zwischen beiden
eine gewisse Verwandtschaft stattfinden muß, daß zu einem Geschichtswerk noch
mehr gehört, als was das wissenschaftliche Leben überhaupt charakterisirt: Fleiß
und Gewissenhaftigkeit in der Aufsuchung der Quellen, vorurtheilsfreie Auf¬
nahme des Inhalts derselben, Scharfsinn und Methode in der Kritik, um den
Grad ihrer Zuverlässigkeit festzustellen, und ein natürliches Rechtsgefühl in der
Ausgleichung ihrer Abweichungen; daß der Geschichtschreiber, um gut und
eindringlich zu erzählen, auch ein Künstler sein muß, das ist heute nirgend
Mehr bestritten. Es kommt nur daraus an, daß die beiden Seiten seines
Talents ebenmäßig ausgebildet sind.

Wenn wir die künstlerische Fähigkeit des Geschichtschreibers analystren, so
werden wir folgende Bestandtheile derselben finden. Seine Phantasie muß so
weit productiv sein, um aus - den Referaten sofort lebendige Wirklichkeit zu
schaffen, um aus einzelnen abgerissenen Notizen das Bild des Ganzen zu ge¬
winnen. Die Bewegung seiner Seele muß elastisch genug sein, um sich in die
Motive der mannigfaltigen Charaktere schnell zu finden, sie nicht blos durch
Analyse zu verstehen, sondern ihnen unmittelbar nachzufühlen. " Er muß die
Analogien aus dem unendlichen Gebiet der Geschichte, die nothwendig sind,
um einen einzelnen Theil derselben zu verstehen, nicht blos als gelehrten
Besitz disponibel haben, sondern sie müssen gewissermaßen zu einer unre-
stectirten Form seines Borstellungsvermögens geworden sein. Er muß aus
einzelnen Berichten, die immer nur Specialfälle geben, sich die Summe der
Zustände in einem Totalbild anschaulich zu machen wissen; er muß in diesen
Zuständen wirklich leben; er muß aus dem einzelnen Fall die Regel, aus der


Grenzboten. II. 31
Preußen und England.
Geschichte der preußischen Politik von I. G. Droysen. Zweiter Theil.
Die territoriale Zeit. Erste Abtheilung. Berlin, Veit u. Como. 1857. —
Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England mit Einschluß
des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats von Dr. Rudolph
Gneist. Berlin, I. Springer. 1837. —

Man hat vielfältig die Scheidelinie festzustellen gesucht, welche das Talent
des Geschichtschreibers von dem deS Dichters trennt. Daß zwischen beiden
eine gewisse Verwandtschaft stattfinden muß, daß zu einem Geschichtswerk noch
mehr gehört, als was das wissenschaftliche Leben überhaupt charakterisirt: Fleiß
und Gewissenhaftigkeit in der Aufsuchung der Quellen, vorurtheilsfreie Auf¬
nahme des Inhalts derselben, Scharfsinn und Methode in der Kritik, um den
Grad ihrer Zuverlässigkeit festzustellen, und ein natürliches Rechtsgefühl in der
Ausgleichung ihrer Abweichungen; daß der Geschichtschreiber, um gut und
eindringlich zu erzählen, auch ein Künstler sein muß, das ist heute nirgend
Mehr bestritten. Es kommt nur daraus an, daß die beiden Seiten seines
Talents ebenmäßig ausgebildet sind.

Wenn wir die künstlerische Fähigkeit des Geschichtschreibers analystren, so
werden wir folgende Bestandtheile derselben finden. Seine Phantasie muß so
weit productiv sein, um aus - den Referaten sofort lebendige Wirklichkeit zu
schaffen, um aus einzelnen abgerissenen Notizen das Bild des Ganzen zu ge¬
winnen. Die Bewegung seiner Seele muß elastisch genug sein, um sich in die
Motive der mannigfaltigen Charaktere schnell zu finden, sie nicht blos durch
Analyse zu verstehen, sondern ihnen unmittelbar nachzufühlen. " Er muß die
Analogien aus dem unendlichen Gebiet der Geschichte, die nothwendig sind,
um einen einzelnen Theil derselben zu verstehen, nicht blos als gelehrten
Besitz disponibel haben, sondern sie müssen gewissermaßen zu einer unre-
stectirten Form seines Borstellungsvermögens geworden sein. Er muß aus
einzelnen Berichten, die immer nur Specialfälle geben, sich die Summe der
Zustände in einem Totalbild anschaulich zu machen wissen; er muß in diesen
Zuständen wirklich leben; er muß aus dem einzelnen Fall die Regel, aus der


Grenzboten. II. 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/103916"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Preußen und England.</head><lb/>
          <list>
            <item> Geschichte der preußischen Politik von I. G. Droysen. Zweiter Theil.<lb/>
Die territoriale Zeit. Erste Abtheilung. Berlin, Veit u. Como. 1857. &#x2014;</item>
            <item> Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England mit Einschluß<lb/>
des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats von Dr. Rudolph<lb/>
Gneist.  Berlin, I. Springer.  1837. &#x2014;</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_729"> Man hat vielfältig die Scheidelinie festzustellen gesucht, welche das Talent<lb/>
des Geschichtschreibers von dem deS Dichters trennt. Daß zwischen beiden<lb/>
eine gewisse Verwandtschaft stattfinden muß, daß zu einem Geschichtswerk noch<lb/>
mehr gehört, als was das wissenschaftliche Leben überhaupt charakterisirt: Fleiß<lb/>
und Gewissenhaftigkeit in der Aufsuchung der Quellen, vorurtheilsfreie Auf¬<lb/>
nahme des Inhalts derselben, Scharfsinn und Methode in der Kritik, um den<lb/>
Grad ihrer Zuverlässigkeit festzustellen, und ein natürliches Rechtsgefühl in der<lb/>
Ausgleichung ihrer Abweichungen; daß der Geschichtschreiber, um gut und<lb/>
eindringlich zu erzählen, auch ein Künstler sein muß, das ist heute nirgend<lb/>
Mehr bestritten. Es kommt nur daraus an, daß die beiden Seiten seines<lb/>
Talents ebenmäßig ausgebildet sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_730" next="#ID_731"> Wenn wir die künstlerische Fähigkeit des Geschichtschreibers analystren, so<lb/>
werden wir folgende Bestandtheile derselben finden. Seine Phantasie muß so<lb/>
weit productiv sein, um aus - den Referaten sofort lebendige Wirklichkeit zu<lb/>
schaffen, um aus einzelnen abgerissenen Notizen das Bild des Ganzen zu ge¬<lb/>
winnen. Die Bewegung seiner Seele muß elastisch genug sein, um sich in die<lb/>
Motive der mannigfaltigen Charaktere schnell zu finden, sie nicht blos durch<lb/>
Analyse zu verstehen, sondern ihnen unmittelbar nachzufühlen. " Er muß die<lb/>
Analogien aus dem unendlichen Gebiet der Geschichte, die nothwendig sind,<lb/>
um einen einzelnen Theil derselben zu verstehen, nicht blos als gelehrten<lb/>
Besitz disponibel haben, sondern sie müssen gewissermaßen zu einer unre-<lb/>
stectirten Form seines Borstellungsvermögens geworden sein. Er muß aus<lb/>
einzelnen Berichten, die immer nur Specialfälle geben, sich die Summe der<lb/>
Zustände in einem Totalbild anschaulich zu machen wissen; er muß in diesen<lb/>
Zuständen wirklich leben; er muß aus dem einzelnen Fall die Regel, aus der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. II. 31</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0249] Preußen und England. Geschichte der preußischen Politik von I. G. Droysen. Zweiter Theil. Die territoriale Zeit. Erste Abtheilung. Berlin, Veit u. Como. 1857. — Geschichte und heutige Gestalt der Aemter in England mit Einschluß des Heeres, der Gerichte, der Kirche, des Hofstaats von Dr. Rudolph Gneist. Berlin, I. Springer. 1837. — Man hat vielfältig die Scheidelinie festzustellen gesucht, welche das Talent des Geschichtschreibers von dem deS Dichters trennt. Daß zwischen beiden eine gewisse Verwandtschaft stattfinden muß, daß zu einem Geschichtswerk noch mehr gehört, als was das wissenschaftliche Leben überhaupt charakterisirt: Fleiß und Gewissenhaftigkeit in der Aufsuchung der Quellen, vorurtheilsfreie Auf¬ nahme des Inhalts derselben, Scharfsinn und Methode in der Kritik, um den Grad ihrer Zuverlässigkeit festzustellen, und ein natürliches Rechtsgefühl in der Ausgleichung ihrer Abweichungen; daß der Geschichtschreiber, um gut und eindringlich zu erzählen, auch ein Künstler sein muß, das ist heute nirgend Mehr bestritten. Es kommt nur daraus an, daß die beiden Seiten seines Talents ebenmäßig ausgebildet sind. Wenn wir die künstlerische Fähigkeit des Geschichtschreibers analystren, so werden wir folgende Bestandtheile derselben finden. Seine Phantasie muß so weit productiv sein, um aus - den Referaten sofort lebendige Wirklichkeit zu schaffen, um aus einzelnen abgerissenen Notizen das Bild des Ganzen zu ge¬ winnen. Die Bewegung seiner Seele muß elastisch genug sein, um sich in die Motive der mannigfaltigen Charaktere schnell zu finden, sie nicht blos durch Analyse zu verstehen, sondern ihnen unmittelbar nachzufühlen. " Er muß die Analogien aus dem unendlichen Gebiet der Geschichte, die nothwendig sind, um einen einzelnen Theil derselben zu verstehen, nicht blos als gelehrten Besitz disponibel haben, sondern sie müssen gewissermaßen zu einer unre- stectirten Form seines Borstellungsvermögens geworden sein. Er muß aus einzelnen Berichten, die immer nur Specialfälle geben, sich die Summe der Zustände in einem Totalbild anschaulich zu machen wissen; er muß in diesen Zuständen wirklich leben; er muß aus dem einzelnen Fall die Regel, aus der Grenzboten. II. 31

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/249
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/249>, abgerufen am 27.07.2024.