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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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Regel den einzelnen Fall schnell herzuleiten wissen. Mit überlegener Bildung
muß er Gläubigkeit und Einfalt des Herzens in so weit verbinden, als eS
nöthig ist, um natürliche Dinge naiv aufzufassen. Von der weiteren Forderung,
das in seiner Totalität angeschaute Bild künstlerisch zu ordnen und zu grup-
piren, reden wir hier nicht.

Alle-diese Fähigkeiten würden bei andern Wissenschaften, z. B. bei der
Naturwissenschaft, mehr störend als förderlich sein. Sie haben auch beim> Ge¬
schichtschreiber nur dann ihre Berechtigung, wenn ein scharfer, sorgfältig prüfen¬
der kritischer Verstand den Proceß der nachschaffenden Einbildungskraft stets
aufmerksam begleitet. Sie können den Geschichtschreiber auf arge Abwege führen,
aber sie sind unumgänglich nothwendig, wenn man ein guter Geschichtschreiber
werden will.

Unter allen deutschen Geschichtschreibern wüßten wir keinen, der diese
Gabe in so hohem Grade besäße, als Droysen. Daraus ist auch allein die
ungeheure Vielseitigkeit seines schriftstellerischen Wirkens zu begreifen, und
wenn man seine Uebersetzung des Aristophanes nebst den Bemerkungen, die er
hinzugefügt hat, aufmerksam studirt, so orientirt man sich auch über den Pro¬
ceß, der in seinem Geist bei der Aneignung eines neuen historischen Stoffs
vor sich geht. Auf welche Abwege diese nervöse Erregbarkeit führen kann,
sehen wir aus dem Beispiel eines geistesverwandten Franzosen, Michelet. Dieser
feine Kopf mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit, der uns zuweilen durch einen
wahrhaft tiefen Blick überrascht, setzt uns ebenso oft durch dithyrambische Er¬
güsse außer Fassung, die allen gesunden Menschenverstand verleugnen. Was
Droysen vor solchen Abwegen schützt, ist zweierlei: einmal die streng wissen¬
schaftliche Methode, die er der guten deutschen Schule verdankt, sodann die
starke sittliche Basis seines Charakters. Michelet, der blindlings den Ein¬
gebungen seiner Phantasie und seines Gefühls folgt, hat sich zu den wildesten
und zu den entgegengesetzten Extremen verirrt. Droysen, der in der unruhigen
Form nicht selten an Michelet erinnert, bleibt in dem innern Kern seiner
Ueberzeugungen stets derselbe. Seine Phantasie und sein Witz schlingt sich
wie ein üppiges Nankengewächs um den festen Stamm seiner sittlich politischen
Weltanschauung, ohne denselben irgendwie zu bewegen. Nur einen Fehler
theilt er mit Michelet: eine ruhige, zusammenhängende, durchweg epische Er¬
zählung ist ihm nicht möglich. Die Subjectivität seiner Darstellung führt
zu so feinen und geistvollen Reflexionen, daß man mit ihm nicht darüber
rechtet, wenn er über die Ereignisse philosophirt, statt sie zu berichten. Für
eine minder bedeutende Anlage aber würde er ein sehr bedenkliches Vor¬
bild sein.

Diese subjective Methode ist dem Anschein nach am wenigsten für ein
monographisches Werk geeignet, und dieser Band, so wie der zunächst vorher-


Regel den einzelnen Fall schnell herzuleiten wissen. Mit überlegener Bildung
muß er Gläubigkeit und Einfalt des Herzens in so weit verbinden, als eS
nöthig ist, um natürliche Dinge naiv aufzufassen. Von der weiteren Forderung,
das in seiner Totalität angeschaute Bild künstlerisch zu ordnen und zu grup-
piren, reden wir hier nicht.

Alle-diese Fähigkeiten würden bei andern Wissenschaften, z. B. bei der
Naturwissenschaft, mehr störend als förderlich sein. Sie haben auch beim> Ge¬
schichtschreiber nur dann ihre Berechtigung, wenn ein scharfer, sorgfältig prüfen¬
der kritischer Verstand den Proceß der nachschaffenden Einbildungskraft stets
aufmerksam begleitet. Sie können den Geschichtschreiber auf arge Abwege führen,
aber sie sind unumgänglich nothwendig, wenn man ein guter Geschichtschreiber
werden will.

Unter allen deutschen Geschichtschreibern wüßten wir keinen, der diese
Gabe in so hohem Grade besäße, als Droysen. Daraus ist auch allein die
ungeheure Vielseitigkeit seines schriftstellerischen Wirkens zu begreifen, und
wenn man seine Uebersetzung des Aristophanes nebst den Bemerkungen, die er
hinzugefügt hat, aufmerksam studirt, so orientirt man sich auch über den Pro¬
ceß, der in seinem Geist bei der Aneignung eines neuen historischen Stoffs
vor sich geht. Auf welche Abwege diese nervöse Erregbarkeit führen kann,
sehen wir aus dem Beispiel eines geistesverwandten Franzosen, Michelet. Dieser
feine Kopf mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit, der uns zuweilen durch einen
wahrhaft tiefen Blick überrascht, setzt uns ebenso oft durch dithyrambische Er¬
güsse außer Fassung, die allen gesunden Menschenverstand verleugnen. Was
Droysen vor solchen Abwegen schützt, ist zweierlei: einmal die streng wissen¬
schaftliche Methode, die er der guten deutschen Schule verdankt, sodann die
starke sittliche Basis seines Charakters. Michelet, der blindlings den Ein¬
gebungen seiner Phantasie und seines Gefühls folgt, hat sich zu den wildesten
und zu den entgegengesetzten Extremen verirrt. Droysen, der in der unruhigen
Form nicht selten an Michelet erinnert, bleibt in dem innern Kern seiner
Ueberzeugungen stets derselbe. Seine Phantasie und sein Witz schlingt sich
wie ein üppiges Nankengewächs um den festen Stamm seiner sittlich politischen
Weltanschauung, ohne denselben irgendwie zu bewegen. Nur einen Fehler
theilt er mit Michelet: eine ruhige, zusammenhängende, durchweg epische Er¬
zählung ist ihm nicht möglich. Die Subjectivität seiner Darstellung führt
zu so feinen und geistvollen Reflexionen, daß man mit ihm nicht darüber
rechtet, wenn er über die Ereignisse philosophirt, statt sie zu berichten. Für
eine minder bedeutende Anlage aber würde er ein sehr bedenkliches Vor¬
bild sein.

Diese subjective Methode ist dem Anschein nach am wenigsten für ein
monographisches Werk geeignet, und dieser Band, so wie der zunächst vorher-


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[0250] Regel den einzelnen Fall schnell herzuleiten wissen. Mit überlegener Bildung muß er Gläubigkeit und Einfalt des Herzens in so weit verbinden, als eS nöthig ist, um natürliche Dinge naiv aufzufassen. Von der weiteren Forderung, das in seiner Totalität angeschaute Bild künstlerisch zu ordnen und zu grup- piren, reden wir hier nicht. Alle-diese Fähigkeiten würden bei andern Wissenschaften, z. B. bei der Naturwissenschaft, mehr störend als förderlich sein. Sie haben auch beim> Ge¬ schichtschreiber nur dann ihre Berechtigung, wenn ein scharfer, sorgfältig prüfen¬ der kritischer Verstand den Proceß der nachschaffenden Einbildungskraft stets aufmerksam begleitet. Sie können den Geschichtschreiber auf arge Abwege führen, aber sie sind unumgänglich nothwendig, wenn man ein guter Geschichtschreiber werden will. Unter allen deutschen Geschichtschreibern wüßten wir keinen, der diese Gabe in so hohem Grade besäße, als Droysen. Daraus ist auch allein die ungeheure Vielseitigkeit seines schriftstellerischen Wirkens zu begreifen, und wenn man seine Uebersetzung des Aristophanes nebst den Bemerkungen, die er hinzugefügt hat, aufmerksam studirt, so orientirt man sich auch über den Pro¬ ceß, der in seinem Geist bei der Aneignung eines neuen historischen Stoffs vor sich geht. Auf welche Abwege diese nervöse Erregbarkeit führen kann, sehen wir aus dem Beispiel eines geistesverwandten Franzosen, Michelet. Dieser feine Kopf mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit, der uns zuweilen durch einen wahrhaft tiefen Blick überrascht, setzt uns ebenso oft durch dithyrambische Er¬ güsse außer Fassung, die allen gesunden Menschenverstand verleugnen. Was Droysen vor solchen Abwegen schützt, ist zweierlei: einmal die streng wissen¬ schaftliche Methode, die er der guten deutschen Schule verdankt, sodann die starke sittliche Basis seines Charakters. Michelet, der blindlings den Ein¬ gebungen seiner Phantasie und seines Gefühls folgt, hat sich zu den wildesten und zu den entgegengesetzten Extremen verirrt. Droysen, der in der unruhigen Form nicht selten an Michelet erinnert, bleibt in dem innern Kern seiner Ueberzeugungen stets derselbe. Seine Phantasie und sein Witz schlingt sich wie ein üppiges Nankengewächs um den festen Stamm seiner sittlich politischen Weltanschauung, ohne denselben irgendwie zu bewegen. Nur einen Fehler theilt er mit Michelet: eine ruhige, zusammenhängende, durchweg epische Er¬ zählung ist ihm nicht möglich. Die Subjectivität seiner Darstellung führt zu so feinen und geistvollen Reflexionen, daß man mit ihm nicht darüber rechtet, wenn er über die Ereignisse philosophirt, statt sie zu berichten. Für eine minder bedeutende Anlage aber würde er ein sehr bedenkliches Vor¬ bild sein. Diese subjective Methode ist dem Anschein nach am wenigsten für ein monographisches Werk geeignet, und dieser Band, so wie der zunächst vorher-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/250>, abgerufen am 27.07.2024.