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Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band.

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gut oder böse, ihm zur Last. Aber die europäische Diplomatie hat sich nur
zu hüten bei der nächsten Krisis Hilfe in einer Abdankung zu Gunsten der
Kronprinzen zu suchen. Es war bereits einmal davon die Rede. -- Es ist nicht
sowohl die Person, als das System und die Traditionen der Vergangenheit,
welche dieser Familie Gefahren bereiten. Und so möge hier statt aller nahe¬
liegenden Schlußbetrachtungen der bei der gegenwärtigen deutschen Preßfrei¬
heit immerhin kühne Ausspruch eines Konservativen stehn. "Da eine jede
Alleinherrschaft," sagt Goethe, "allen Einfluß ablehnet und die Persönlich¬
keit des Regenten in größter Sicherheit zu bewahren hat, so folgt, daß der
Despot immerfort Verrath argwöhnen, überall Gefahr ahnen, auch Gewalt
von allen Seiten befürchten müsse, weil er ja selbst nur durch Gewalt seinen
erhabenen Posten behauptet. . . . Ein uneingeschränkter Wille steigert sich
selbst und muß, von außen nicht gewarnt, nach dem völlig Grenzenlosen stre¬
ben. . . . Aber nicht allein der Fürst, sondern ein jeder, der durch Vertrauen,
Gunst, oder Anmaßung, Theil an der höchsten Macht gewinnt, kommt in Ge¬
fahr, den Kreis zu überschreiten, welchen Gesetz und Sitte, Menschengefühl,
Gewissen, Religion und Herkommen, zu Glück und Beruhigung um das
Menschengeschlecht gezogen haben."




Der persische Conflict.

Persien hat für Rußland eine ganz ähnliche Wichtigkeit wie das türkische
Reich. Wenn der Länderbesitz des Sultans oder des Schah dem mosko¬
witischen Staate einverleibt wird, erhält Rußland die Herrschaft, im ersten
Fall über Europa, im andern über Asien. Gelänge es dem Zar jemals,
sich der europäischen Türkei zu bemächtigen, so wären die HauptstMten des
europäischen Continents, vornehmlich Oestreich und England, im äußersten
Maße bedroht. Der Pontus wäre allen uichtrussischen Kriegsfahrzeugen ver¬
schlossen, und thatsächlich in ein russisches Binnenmeer umgewandelt; an der
mittelländischen See hätte diese Macht eine weitgedehnte und hafenreiche Küste
und in dem Griechenvolke die rührigsten Seeleute zur Bemannung seiner Flotten;
es würde nicht nur den Bestrebungen Oestreichs, sich an der Adria zu einer
Seemacht des Mittelmeeres zu entwickeln, Halt gebieten, sondern auf Grunv
der neugewonnenen, ungeheuern Hilfsmittel zur See selbst Frankreich und
England entgegentreten. Das sogenannte "Donaureich" im Besonderen. befände
sich in einer mehr als bedrohten Lage, von Polen bis Bosnien hin im weiten
Bogen vom russischen Gebiet umfaßt, und einer erdrückenden strategischen
Umarmung Preis gegeben. Aber auch in Italien könnte Nußland einbreche";


gut oder böse, ihm zur Last. Aber die europäische Diplomatie hat sich nur
zu hüten bei der nächsten Krisis Hilfe in einer Abdankung zu Gunsten der
Kronprinzen zu suchen. Es war bereits einmal davon die Rede. — Es ist nicht
sowohl die Person, als das System und die Traditionen der Vergangenheit,
welche dieser Familie Gefahren bereiten. Und so möge hier statt aller nahe¬
liegenden Schlußbetrachtungen der bei der gegenwärtigen deutschen Preßfrei¬
heit immerhin kühne Ausspruch eines Konservativen stehn. „Da eine jede
Alleinherrschaft," sagt Goethe, „allen Einfluß ablehnet und die Persönlich¬
keit des Regenten in größter Sicherheit zu bewahren hat, so folgt, daß der
Despot immerfort Verrath argwöhnen, überall Gefahr ahnen, auch Gewalt
von allen Seiten befürchten müsse, weil er ja selbst nur durch Gewalt seinen
erhabenen Posten behauptet. . . . Ein uneingeschränkter Wille steigert sich
selbst und muß, von außen nicht gewarnt, nach dem völlig Grenzenlosen stre¬
ben. . . . Aber nicht allein der Fürst, sondern ein jeder, der durch Vertrauen,
Gunst, oder Anmaßung, Theil an der höchsten Macht gewinnt, kommt in Ge¬
fahr, den Kreis zu überschreiten, welchen Gesetz und Sitte, Menschengefühl,
Gewissen, Religion und Herkommen, zu Glück und Beruhigung um das
Menschengeschlecht gezogen haben."




Der persische Conflict.

Persien hat für Rußland eine ganz ähnliche Wichtigkeit wie das türkische
Reich. Wenn der Länderbesitz des Sultans oder des Schah dem mosko¬
witischen Staate einverleibt wird, erhält Rußland die Herrschaft, im ersten
Fall über Europa, im andern über Asien. Gelänge es dem Zar jemals,
sich der europäischen Türkei zu bemächtigen, so wären die HauptstMten des
europäischen Continents, vornehmlich Oestreich und England, im äußersten
Maße bedroht. Der Pontus wäre allen uichtrussischen Kriegsfahrzeugen ver¬
schlossen, und thatsächlich in ein russisches Binnenmeer umgewandelt; an der
mittelländischen See hätte diese Macht eine weitgedehnte und hafenreiche Küste
und in dem Griechenvolke die rührigsten Seeleute zur Bemannung seiner Flotten;
es würde nicht nur den Bestrebungen Oestreichs, sich an der Adria zu einer
Seemacht des Mittelmeeres zu entwickeln, Halt gebieten, sondern auf Grunv
der neugewonnenen, ungeheuern Hilfsmittel zur See selbst Frankreich und
England entgegentreten. Das sogenannte „Donaureich" im Besonderen. befände
sich in einer mehr als bedrohten Lage, von Polen bis Bosnien hin im weiten
Bogen vom russischen Gebiet umfaßt, und einer erdrückenden strategischen
Umarmung Preis gegeben. Aber auch in Italien könnte Nußland einbreche»;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_102594/306>, abgerufen am 23.07.2024.