Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Litmttnrgeschlchte.
Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Zum Ge¬
brauch auf Gymnasien entworfen von August Koberstein. Vierte, durch¬
gängig verbesserte und zum großen Theil völlig umgearbeitete Auflage.
Leipzig, F. C. W. Vogel. --

Die ungewöhnliche Ausdehnung, welche in diesem Augenblick das Gebiet
der Literaturgeschichte gewinnt, erklärt sich aus dem dunkeln Gefühl, daß es
mit der Blüte dessen, was man früher ausschließlich Literatur zu nennen
pflegte, vorüber ist. Die leidenschaftlichsten Vertreter der neuesten Poesie
können sich doch der Betrachtung nicht erwehren, daß die Darstellung in der
Regel erst da beginnt, wo das Ereigniß seinen Abschluß gefunden hat. Auch
im Lauf eines sogenannten classischen Zeitalters finden sich wol literaturhisto¬
rische Versuche, aber diese gehen, abgesehen von der Behandlung älterer Perio¬
den, vorzugsweise darauf aus, für vorhandene Richtungen und Ideale Ge¬
währsmänner und Vorbilder aufzusuchen. Das war z. B. die Richtung der
schlegelschcn Periode. Was damals in der Literaturgeschichte geleistet wurde,
ging mitten aus der Bewegung der specifischen Literatur heraus, die sich be¬
mühte, für ihren Lebenstrieb neue Kräfte zu sammeln. --- Seit Gervinus ist
die Sache eine andre geworden. Der Geschichtschreiber sieht sich die Literatur
wie ein Object gegenüber; er betrachtet sie kritisch, sei es nun, um sie anzu¬
greifen oder sie zu vertheidigen. Der Gegenstand erregt nicht mehr an und für
sich selbst ein Interesse, sondern als geistiger Ausdruck einer bestimmten Cultur¬
entwicklung , deren letztes Resultat er entweder mit Befriedigung oder mit Ver¬
druß empfindet. ' Jeder Literaturhistoriker geht jetzt von einer bestimmten politi¬
schen Gesinnung aus, auch die Jungdeutschen, die als Ritter vom.Geist wenig¬
stens Revolutionäre im Allgemeinen sind, wenn ihnen auch kein bestimmter
Gegenstand der Revolution vorschwebt. Die Frage nach dem Werth eines
Kunstwerks an und für sich läßt sich freilich nicht umgehen, daneben tritt aber
immer noch die zweite hervor: was für einen Einfluß hat es auf unsre wirkliche
nationale Entwicklung gehabt, oder inwiefern ist es ein Zeugniß für ein bestimm¬
tes Moment unsrer nationalen Entwicklung? und dieser Standpunkt ist un¬
zweifelhaft der richtige, wenn man ihn nur so weit zu beschränken weiß, daß er


Grenzboten. II. -I8ö6. 26
Litmttnrgeschlchte.
Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Zum Ge¬
brauch auf Gymnasien entworfen von August Koberstein. Vierte, durch¬
gängig verbesserte und zum großen Theil völlig umgearbeitete Auflage.
Leipzig, F. C. W. Vogel. —

Die ungewöhnliche Ausdehnung, welche in diesem Augenblick das Gebiet
der Literaturgeschichte gewinnt, erklärt sich aus dem dunkeln Gefühl, daß es
mit der Blüte dessen, was man früher ausschließlich Literatur zu nennen
pflegte, vorüber ist. Die leidenschaftlichsten Vertreter der neuesten Poesie
können sich doch der Betrachtung nicht erwehren, daß die Darstellung in der
Regel erst da beginnt, wo das Ereigniß seinen Abschluß gefunden hat. Auch
im Lauf eines sogenannten classischen Zeitalters finden sich wol literaturhisto¬
rische Versuche, aber diese gehen, abgesehen von der Behandlung älterer Perio¬
den, vorzugsweise darauf aus, für vorhandene Richtungen und Ideale Ge¬
währsmänner und Vorbilder aufzusuchen. Das war z. B. die Richtung der
schlegelschcn Periode. Was damals in der Literaturgeschichte geleistet wurde,
ging mitten aus der Bewegung der specifischen Literatur heraus, die sich be¬
mühte, für ihren Lebenstrieb neue Kräfte zu sammeln. —- Seit Gervinus ist
die Sache eine andre geworden. Der Geschichtschreiber sieht sich die Literatur
wie ein Object gegenüber; er betrachtet sie kritisch, sei es nun, um sie anzu¬
greifen oder sie zu vertheidigen. Der Gegenstand erregt nicht mehr an und für
sich selbst ein Interesse, sondern als geistiger Ausdruck einer bestimmten Cultur¬
entwicklung , deren letztes Resultat er entweder mit Befriedigung oder mit Ver¬
druß empfindet. ' Jeder Literaturhistoriker geht jetzt von einer bestimmten politi¬
schen Gesinnung aus, auch die Jungdeutschen, die als Ritter vom.Geist wenig¬
stens Revolutionäre im Allgemeinen sind, wenn ihnen auch kein bestimmter
Gegenstand der Revolution vorschwebt. Die Frage nach dem Werth eines
Kunstwerks an und für sich läßt sich freilich nicht umgehen, daneben tritt aber
immer noch die zweite hervor: was für einen Einfluß hat es auf unsre wirkliche
nationale Entwicklung gehabt, oder inwiefern ist es ein Zeugniß für ein bestimm¬
tes Moment unsrer nationalen Entwicklung? und dieser Standpunkt ist un¬
zweifelhaft der richtige, wenn man ihn nur so weit zu beschränken weiß, daß er


Grenzboten. II. -I8ö6. 26
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0209" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/101736"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Litmttnrgeschlchte.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Zum Ge¬<lb/>
brauch auf Gymnasien entworfen von August Koberstein. Vierte, durch¬<lb/>
gängig verbesserte und zum großen Theil völlig umgearbeitete Auflage.<lb/>
Leipzig, F. C. W. Vogel. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_511" next="#ID_512"> Die ungewöhnliche Ausdehnung, welche in diesem Augenblick das Gebiet<lb/>
der Literaturgeschichte gewinnt, erklärt sich aus dem dunkeln Gefühl, daß es<lb/>
mit der Blüte dessen, was man früher ausschließlich Literatur zu nennen<lb/>
pflegte, vorüber ist. Die leidenschaftlichsten Vertreter der neuesten Poesie<lb/>
können sich doch der Betrachtung nicht erwehren, daß die Darstellung in der<lb/>
Regel erst da beginnt, wo das Ereigniß seinen Abschluß gefunden hat. Auch<lb/>
im Lauf eines sogenannten classischen Zeitalters finden sich wol literaturhisto¬<lb/>
rische Versuche, aber diese gehen, abgesehen von der Behandlung älterer Perio¬<lb/>
den, vorzugsweise darauf aus, für vorhandene Richtungen und Ideale Ge¬<lb/>
währsmänner und Vorbilder aufzusuchen. Das war z. B. die Richtung der<lb/>
schlegelschcn Periode. Was damals in der Literaturgeschichte geleistet wurde,<lb/>
ging mitten aus der Bewegung der specifischen Literatur heraus, die sich be¬<lb/>
mühte, für ihren Lebenstrieb neue Kräfte zu sammeln. &#x2014;- Seit Gervinus ist<lb/>
die Sache eine andre geworden. Der Geschichtschreiber sieht sich die Literatur<lb/>
wie ein Object gegenüber; er betrachtet sie kritisch, sei es nun, um sie anzu¬<lb/>
greifen oder sie zu vertheidigen. Der Gegenstand erregt nicht mehr an und für<lb/>
sich selbst ein Interesse, sondern als geistiger Ausdruck einer bestimmten Cultur¬<lb/>
entwicklung , deren letztes Resultat er entweder mit Befriedigung oder mit Ver¬<lb/>
druß empfindet. ' Jeder Literaturhistoriker geht jetzt von einer bestimmten politi¬<lb/>
schen Gesinnung aus, auch die Jungdeutschen, die als Ritter vom.Geist wenig¬<lb/>
stens Revolutionäre im Allgemeinen sind, wenn ihnen auch kein bestimmter<lb/>
Gegenstand der Revolution vorschwebt. Die Frage nach dem Werth eines<lb/>
Kunstwerks an und für sich läßt sich freilich nicht umgehen, daneben tritt aber<lb/>
immer noch die zweite hervor: was für einen Einfluß hat es auf unsre wirkliche<lb/>
nationale Entwicklung gehabt, oder inwiefern ist es ein Zeugniß für ein bestimm¬<lb/>
tes Moment unsrer nationalen Entwicklung? und dieser Standpunkt ist un¬<lb/>
zweifelhaft der richtige, wenn man ihn nur so weit zu beschränken weiß, daß er</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. II. -I8ö6. 26</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0209] Litmttnrgeschlchte. Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Zum Ge¬ brauch auf Gymnasien entworfen von August Koberstein. Vierte, durch¬ gängig verbesserte und zum großen Theil völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig, F. C. W. Vogel. — Die ungewöhnliche Ausdehnung, welche in diesem Augenblick das Gebiet der Literaturgeschichte gewinnt, erklärt sich aus dem dunkeln Gefühl, daß es mit der Blüte dessen, was man früher ausschließlich Literatur zu nennen pflegte, vorüber ist. Die leidenschaftlichsten Vertreter der neuesten Poesie können sich doch der Betrachtung nicht erwehren, daß die Darstellung in der Regel erst da beginnt, wo das Ereigniß seinen Abschluß gefunden hat. Auch im Lauf eines sogenannten classischen Zeitalters finden sich wol literaturhisto¬ rische Versuche, aber diese gehen, abgesehen von der Behandlung älterer Perio¬ den, vorzugsweise darauf aus, für vorhandene Richtungen und Ideale Ge¬ währsmänner und Vorbilder aufzusuchen. Das war z. B. die Richtung der schlegelschcn Periode. Was damals in der Literaturgeschichte geleistet wurde, ging mitten aus der Bewegung der specifischen Literatur heraus, die sich be¬ mühte, für ihren Lebenstrieb neue Kräfte zu sammeln. —- Seit Gervinus ist die Sache eine andre geworden. Der Geschichtschreiber sieht sich die Literatur wie ein Object gegenüber; er betrachtet sie kritisch, sei es nun, um sie anzu¬ greifen oder sie zu vertheidigen. Der Gegenstand erregt nicht mehr an und für sich selbst ein Interesse, sondern als geistiger Ausdruck einer bestimmten Cultur¬ entwicklung , deren letztes Resultat er entweder mit Befriedigung oder mit Ver¬ druß empfindet. ' Jeder Literaturhistoriker geht jetzt von einer bestimmten politi¬ schen Gesinnung aus, auch die Jungdeutschen, die als Ritter vom.Geist wenig¬ stens Revolutionäre im Allgemeinen sind, wenn ihnen auch kein bestimmter Gegenstand der Revolution vorschwebt. Die Frage nach dem Werth eines Kunstwerks an und für sich läßt sich freilich nicht umgehen, daneben tritt aber immer noch die zweite hervor: was für einen Einfluß hat es auf unsre wirkliche nationale Entwicklung gehabt, oder inwiefern ist es ein Zeugniß für ein bestimm¬ tes Moment unsrer nationalen Entwicklung? und dieser Standpunkt ist un¬ zweifelhaft der richtige, wenn man ihn nur so weit zu beschränken weiß, daß er Grenzboten. II. -I8ö6. 26

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/209
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 15, 1856, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341584_101526/209>, abgerufen am 05.07.2024.