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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band.

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schichte warm gemacht, so ist er sofort wieder geschäftig, uns durch nachträglich
eingeschobene Züge zu verwirren und zu verstimmen; kaum sehen wir einen
Charakter in festen Umrissen vor uns entstehen, so verwischt er wieder die
Züge und wir haben ein anderes, unbekanntes Bild vor uns. Die Sprünge,
in welchen der Dichter über das Wesentliche hinweghüpft, sind zuweilen ebenso
wunderlich, als die Breite, mit der er sich in das Unwesentliche einläßt. Der
Schluß soll einen tragischen Eindruck auf uns machen, aber wir werden nur
verdutzt, da wir auf den Ausgang durchaus nicht vorbereitet sind. -- Es ist
ein ganz sonderbares Schauspiel. Ein edles, kräftiges Gemüth und eine feine
Bildung, ein ganz ungewöhnliches Talent für Beschreibung und Charakteristik
und dabei doch diese verwaschene launenhafte Form, diese vollständige Abwesen¬
heit des Gefühls, das allein eine Dichtung von größerem Umfang berechtigt,
des Gefühls der Nothwendigkeit. Wir wünschen dem Buch recht zahlreiche und
aufmerksame Leser, denn es gehört ganz entschieden zu den geistvollsten, die im
Lauf der letzten Jahre geschrieben sind; aber wir hoffen kaum, daß unser
Wunsch in Erfüllung gehen wird, denn diesen beständigen Wechsel von Hitze
und Abspannung, von Traum und Wirklichkeit, von Schmerz und Humor er¬
trägt auf die Länge kein gesundes Gemüth. --


Traum und Leben. Bon Felix Ernst Hoffmann. Berlin, H. Schind¬
ler. 1855. --

Wenn wir aus dem vorhergehenden Roman in diesen neuen übertreten,
so werden wir nicht grade angenehm überrascht. Im grünen Heinrich die
edelste Sprache feiner Bildung und zarter Empfindung, hier ein verwilderter
Studentertton, der mitunter in den rohesten Cynismus übergeht. Es ist ni,ehe
Mangel an Bildung, sondern Geschmacklosigkeit, waS diese Darstellung erklärt.
Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Die Hauptperson, ein gewisser Nor¬
deck, neckt fortwährend einen ehrlichen Oberlehrer der Mathematik, Namens
Zähmann. Einmal gibt er der Gesellschaft das Räthsel auf, was ein Leim-
sieder ist, keiner konnte es rathen, und allgemein kam die Frage, wie die Lösung
sei. "Das will ich Ihnen sagen, meine werthen Herrschaften. Ein Leim-
sieder ist nämlich ein Philister, der nicht mehr mit Logarithmen zu berechnen
ist", lachte Nordeck und die Oberstin drohte ihm mit dem Finger; der gute Zäh¬
mann nickte wohlgefällig ihm zu, denn nach seiner Ansicht war der Witz ganz
gut, schon der Logarithmen wegen; daß er möglicherweise darunter verstan¬
den wäre, war ihm natürlich nicht im entferntesten in den Sinn gekommen
zu glauben. Er war überhaupt im Auffinden von Pointen bei einer Erzäh¬
lung merkwürdig auf seinen Gcistesfüßen struppirt; hier hatte ihm, wie gesagt,
nur im tiefsten Nebel das Bild des Witzes vorgeschwebt, hatte aber darum
doch Ansprüche auf sein gerechtes Gefallen sich erworben, weil es in sein Fach


schichte warm gemacht, so ist er sofort wieder geschäftig, uns durch nachträglich
eingeschobene Züge zu verwirren und zu verstimmen; kaum sehen wir einen
Charakter in festen Umrissen vor uns entstehen, so verwischt er wieder die
Züge und wir haben ein anderes, unbekanntes Bild vor uns. Die Sprünge,
in welchen der Dichter über das Wesentliche hinweghüpft, sind zuweilen ebenso
wunderlich, als die Breite, mit der er sich in das Unwesentliche einläßt. Der
Schluß soll einen tragischen Eindruck auf uns machen, aber wir werden nur
verdutzt, da wir auf den Ausgang durchaus nicht vorbereitet sind. — Es ist
ein ganz sonderbares Schauspiel. Ein edles, kräftiges Gemüth und eine feine
Bildung, ein ganz ungewöhnliches Talent für Beschreibung und Charakteristik
und dabei doch diese verwaschene launenhafte Form, diese vollständige Abwesen¬
heit des Gefühls, das allein eine Dichtung von größerem Umfang berechtigt,
des Gefühls der Nothwendigkeit. Wir wünschen dem Buch recht zahlreiche und
aufmerksame Leser, denn es gehört ganz entschieden zu den geistvollsten, die im
Lauf der letzten Jahre geschrieben sind; aber wir hoffen kaum, daß unser
Wunsch in Erfüllung gehen wird, denn diesen beständigen Wechsel von Hitze
und Abspannung, von Traum und Wirklichkeit, von Schmerz und Humor er¬
trägt auf die Länge kein gesundes Gemüth. —


Traum und Leben. Bon Felix Ernst Hoffmann. Berlin, H. Schind¬
ler. 1855. —

Wenn wir aus dem vorhergehenden Roman in diesen neuen übertreten,
so werden wir nicht grade angenehm überrascht. Im grünen Heinrich die
edelste Sprache feiner Bildung und zarter Empfindung, hier ein verwilderter
Studentertton, der mitunter in den rohesten Cynismus übergeht. Es ist ni,ehe
Mangel an Bildung, sondern Geschmacklosigkeit, waS diese Darstellung erklärt.
Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Die Hauptperson, ein gewisser Nor¬
deck, neckt fortwährend einen ehrlichen Oberlehrer der Mathematik, Namens
Zähmann. Einmal gibt er der Gesellschaft das Räthsel auf, was ein Leim-
sieder ist, keiner konnte es rathen, und allgemein kam die Frage, wie die Lösung
sei. „Das will ich Ihnen sagen, meine werthen Herrschaften. Ein Leim-
sieder ist nämlich ein Philister, der nicht mehr mit Logarithmen zu berechnen
ist", lachte Nordeck und die Oberstin drohte ihm mit dem Finger; der gute Zäh¬
mann nickte wohlgefällig ihm zu, denn nach seiner Ansicht war der Witz ganz
gut, schon der Logarithmen wegen; daß er möglicherweise darunter verstan¬
den wäre, war ihm natürlich nicht im entferntesten in den Sinn gekommen
zu glauben. Er war überhaupt im Auffinden von Pointen bei einer Erzäh¬
lung merkwürdig auf seinen Gcistesfüßen struppirt; hier hatte ihm, wie gesagt,
nur im tiefsten Nebel das Bild des Witzes vorgeschwebt, hatte aber darum
doch Ansprüche auf sein gerechtes Gefallen sich erworben, weil es in sein Fach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99919/174>, abgerufen am 22.07.2024.