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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Opferfreudigkeit und den edelsten Willen, aber nicht in demselben Maße Aus¬
dauer, Consequenz und ein nüchternes Abwägen der Wirklichkeit.

Thomas Plater um 1607.

"Da ich nun bei sechs Jahr alt war, hat man mich nach Elster gethan,
ist ein Thal innerhalb Statten, da hatte meiner Mutter selige Schwester
einen Mann, der hieß Thomas an Nyedin, er saß auf einem Hof, der hieß
im Boden, dem mußte ich das erste Jahr die Gitz'en*) bei dem Hause hüten.
Da erinnere ich mich, daß ich manchmal im Schnee steckte, so daß ich kaum
herauskommen konnte und mir oft die Schuhe zurückblieben und ich barfuß,
zitternd heimkam. Derselbe Bauer hatte bei achtzig Geisen, die mußte ich in
meinem siebenten und achten Jahre hüten. Und da ich noch so klein war,
wenn ich den Stall aufthat und nicht gleich neben mich sprang, stießen mich
die Meisen nieder, liefen über mich hinaus, traten mir auf den Kopf, Arm
und Rücken, denn ich siel mehrentheils auf die Nase. Wenn ich dann die
Geisen über die Brücke der Visp (ist ein Wasser) trieb, liefen mir die
ersten zur Seite in die Kornäcker, wenn ich. sie daraus trieb, liefen die andern
darein; da weinte ich dann und schrie, denn ich wußte wol, daß man mich
zur Nacht streichen würde. Wenn aber dann mehr Geishirten zu mir kamen
von andern Bauern, die halfen mir; insonderheit einer, der war groß, der
hieß Thomas in Heidenbach, den erbarmte ich und that mir viel Gutes. Wenn
wir die Geisen auf die hohen und grausamen Berg gebracht hatten, saßen
wir dann alle zusammen, zehrten miteinander zu Abend, hatten jeglicher ein
Hirtenkörblein am Rücken, Käs und Roggenbrod darin. Einst als wir ge¬
gessen harten, wollten wir Platten schießen"*); da war auf einem hohen schroffen
Felsen ein ebner Platz. Wie nun einer nach d.ein andern nach dem Ziel schoß
stand einer vor mir, der wollte schießen, dem wollte ich nach hinten aus¬
weichen, daß er mir die' Platte nicht an den Kopf oder das Antlitz schlüge,
ich fiel aber hinter mich über den Felsen hinab. Die Hirten schrieen alle: Jesus,
Jesus! bis sie mich nicht mehr sahen, denn ich war unter den Vorsprung
des Felsens gefallen, so daß sie mich nicht sehen konnten, sie meinten gänz¬
lich , ich wäre zu Tode gefallen. Ich aber stand bald wieder auf, da weinten
sie erstlich vor, Kummer, dann aber vor Freuden. Etwa sechs Wochen später
fiel einem eine Geis da hinab, wo ich gefallen war, die zerfiel zu Tode; mich
aber hat Gott wohl behütet.

Vielleicht ein halbes Jahr darnach führte ich meine Geisen am Morgen
frühe vor andern Hirten (denn ich war der nächste) über eine Felssteile hinauf,




*) junge Ziegen, Zickel.
Ein Knabenspiel, mit kleinen eisernen Platten nach einem gewissen Ziele werfe". --
Staldcr, Idiotik, unter Blatten.

Opferfreudigkeit und den edelsten Willen, aber nicht in demselben Maße Aus¬
dauer, Consequenz und ein nüchternes Abwägen der Wirklichkeit.

Thomas Plater um 1607.

„Da ich nun bei sechs Jahr alt war, hat man mich nach Elster gethan,
ist ein Thal innerhalb Statten, da hatte meiner Mutter selige Schwester
einen Mann, der hieß Thomas an Nyedin, er saß auf einem Hof, der hieß
im Boden, dem mußte ich das erste Jahr die Gitz'en*) bei dem Hause hüten.
Da erinnere ich mich, daß ich manchmal im Schnee steckte, so daß ich kaum
herauskommen konnte und mir oft die Schuhe zurückblieben und ich barfuß,
zitternd heimkam. Derselbe Bauer hatte bei achtzig Geisen, die mußte ich in
meinem siebenten und achten Jahre hüten. Und da ich noch so klein war,
wenn ich den Stall aufthat und nicht gleich neben mich sprang, stießen mich
die Meisen nieder, liefen über mich hinaus, traten mir auf den Kopf, Arm
und Rücken, denn ich siel mehrentheils auf die Nase. Wenn ich dann die
Geisen über die Brücke der Visp (ist ein Wasser) trieb, liefen mir die
ersten zur Seite in die Kornäcker, wenn ich. sie daraus trieb, liefen die andern
darein; da weinte ich dann und schrie, denn ich wußte wol, daß man mich
zur Nacht streichen würde. Wenn aber dann mehr Geishirten zu mir kamen
von andern Bauern, die halfen mir; insonderheit einer, der war groß, der
hieß Thomas in Heidenbach, den erbarmte ich und that mir viel Gutes. Wenn
wir die Geisen auf die hohen und grausamen Berg gebracht hatten, saßen
wir dann alle zusammen, zehrten miteinander zu Abend, hatten jeglicher ein
Hirtenkörblein am Rücken, Käs und Roggenbrod darin. Einst als wir ge¬
gessen harten, wollten wir Platten schießen"*); da war auf einem hohen schroffen
Felsen ein ebner Platz. Wie nun einer nach d.ein andern nach dem Ziel schoß
stand einer vor mir, der wollte schießen, dem wollte ich nach hinten aus¬
weichen, daß er mir die' Platte nicht an den Kopf oder das Antlitz schlüge,
ich fiel aber hinter mich über den Felsen hinab. Die Hirten schrieen alle: Jesus,
Jesus! bis sie mich nicht mehr sahen, denn ich war unter den Vorsprung
des Felsens gefallen, so daß sie mich nicht sehen konnten, sie meinten gänz¬
lich , ich wäre zu Tode gefallen. Ich aber stand bald wieder auf, da weinten
sie erstlich vor, Kummer, dann aber vor Freuden. Etwa sechs Wochen später
fiel einem eine Geis da hinab, wo ich gefallen war, die zerfiel zu Tode; mich
aber hat Gott wohl behütet.

Vielleicht ein halbes Jahr darnach führte ich meine Geisen am Morgen
frühe vor andern Hirten (denn ich war der nächste) über eine Felssteile hinauf,




*) junge Ziegen, Zickel.
Ein Knabenspiel, mit kleinen eisernen Platten nach einem gewissen Ziele werfe». —
Staldcr, Idiotik, unter Blatten.
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[0428] Opferfreudigkeit und den edelsten Willen, aber nicht in demselben Maße Aus¬ dauer, Consequenz und ein nüchternes Abwägen der Wirklichkeit. Thomas Plater um 1607. „Da ich nun bei sechs Jahr alt war, hat man mich nach Elster gethan, ist ein Thal innerhalb Statten, da hatte meiner Mutter selige Schwester einen Mann, der hieß Thomas an Nyedin, er saß auf einem Hof, der hieß im Boden, dem mußte ich das erste Jahr die Gitz'en*) bei dem Hause hüten. Da erinnere ich mich, daß ich manchmal im Schnee steckte, so daß ich kaum herauskommen konnte und mir oft die Schuhe zurückblieben und ich barfuß, zitternd heimkam. Derselbe Bauer hatte bei achtzig Geisen, die mußte ich in meinem siebenten und achten Jahre hüten. Und da ich noch so klein war, wenn ich den Stall aufthat und nicht gleich neben mich sprang, stießen mich die Meisen nieder, liefen über mich hinaus, traten mir auf den Kopf, Arm und Rücken, denn ich siel mehrentheils auf die Nase. Wenn ich dann die Geisen über die Brücke der Visp (ist ein Wasser) trieb, liefen mir die ersten zur Seite in die Kornäcker, wenn ich. sie daraus trieb, liefen die andern darein; da weinte ich dann und schrie, denn ich wußte wol, daß man mich zur Nacht streichen würde. Wenn aber dann mehr Geishirten zu mir kamen von andern Bauern, die halfen mir; insonderheit einer, der war groß, der hieß Thomas in Heidenbach, den erbarmte ich und that mir viel Gutes. Wenn wir die Geisen auf die hohen und grausamen Berg gebracht hatten, saßen wir dann alle zusammen, zehrten miteinander zu Abend, hatten jeglicher ein Hirtenkörblein am Rücken, Käs und Roggenbrod darin. Einst als wir ge¬ gessen harten, wollten wir Platten schießen"*); da war auf einem hohen schroffen Felsen ein ebner Platz. Wie nun einer nach d.ein andern nach dem Ziel schoß stand einer vor mir, der wollte schießen, dem wollte ich nach hinten aus¬ weichen, daß er mir die' Platte nicht an den Kopf oder das Antlitz schlüge, ich fiel aber hinter mich über den Felsen hinab. Die Hirten schrieen alle: Jesus, Jesus! bis sie mich nicht mehr sahen, denn ich war unter den Vorsprung des Felsens gefallen, so daß sie mich nicht sehen konnten, sie meinten gänz¬ lich , ich wäre zu Tode gefallen. Ich aber stand bald wieder auf, da weinten sie erstlich vor, Kummer, dann aber vor Freuden. Etwa sechs Wochen später fiel einem eine Geis da hinab, wo ich gefallen war, die zerfiel zu Tode; mich aber hat Gott wohl behütet. Vielleicht ein halbes Jahr darnach führte ich meine Geisen am Morgen frühe vor andern Hirten (denn ich war der nächste) über eine Felssteile hinauf, *) junge Ziegen, Zickel. Ein Knabenspiel, mit kleinen eisernen Platten nach einem gewissen Ziele werfe». — Staldcr, Idiotik, unter Blatten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/428>, abgerufen am 29.06.2024.