Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Uebrigen getrennt hätte. Herr Härtung ist davon ausgegangen, das ganze
Gedicht von Anfang bis zu Ende, die Dienstmädchen am Psingstmorgen mit
eingerechnet, als ein planvolles Kunstwerk zu erklären. Hätte er statt dessen
auf die Entstehung des Gedichts Rücksicht genommen, die beinahe einen Zeit¬
raum von sechzig Jahren umfaßt (1773 -- 1832^, innerhalb dessen der Dichter
nicht blos in seinen Plänen wechselte, sondern auch in seinen innern Ansich¬
ten und Ueberzeugungen, so wäre er in jene Mißgriffe nicht verfallen. Noch
zweckmäßiger wäre es gewesen, von einer Vollständigkeit des Commentars
überhaupt abzusehen und unter dem Titel von Beiträgen zum nähern Ver¬
ständniß des Faust nur dasjenige zusammenzustellen, was bisher noch nicht
gesagt worden ist und gesagt werden mußte; denn wenn jeder neue Ausleger
des Faust seine Vorgänger ignorirt und immer von vorn anfängt, so kann
diese Art Literatur noch ein paar Jahrhunderte fortdauern, und wir kommen
in dem richtigen Verständniß keinen Schritt weiter. In dieser Beziehung soll¬
ten wir uns die Philologen zum Muster nehmen, die es durch sorgfältige
Kenntnißnahme ihrer Vorgänger dahin bringen, daß in ihre Arbeiten Zusam¬
menhang kommt und daß man nicht in Gefahr ist, den Gewinn der einzelnen
Anstrengungen wieder zu verlieren. --




Ein Blick auf die bevorstehende Campagne.
z/5) s',

Wenn einerseits die Mitwirkung des preußischen Großstaats beim bewaffne-
ten Pacificationswerke der günstigste Fall wäre, dem die verbündete Krieg¬
führung und im Besonderen die östreichische in ihrem Interesse zu wünschen
hätte, weil er eine concentrirte Verwendung der Streitkräfte des Kaiserreichs,
ohne weitere Vorsichtsmaßregeln und auf naturgemäßer und nicht allzuausgc-
dehuter Fronte gestatten würde, so ist andererseits der sür das wiener Cabinet
zunächst günstig gelegene Fall der, daß Preußen sich zu einer strengen
Neutralität während des ganzen Kriegsverlaufs verpflichten würde. Darum
hat, wie ich hier die Verhandlungen auffaßte, die östreichische Politik in Be¬
zug auf Preußen stets zwei Ziele im Auge zubehalten: als höchsten Preis ihres
Strebens erkennt sie die Mitwirkung der anderen deutschen Großmacht, als
zweiten aber eine bindende Verpflichtung, vermöge welcher das berliner Cabinet
auf eine jede spätere Einmischung Verzicht geleistet hätte. Eine solche Ver¬
zichtleistung, die in gehöriger Form ausgesprochen worden wäre,, würde immerhin



*) Der Verfasser glaubt bei der folgenden Darstellung allgemeiner strategischer Verhält¬
nisse vorläufig von der gegenwärtigen politischen Schwankung Oestreichs absehen zu müssen, er
nimmt eine thätige Theilnahme desselben am Feldzuge -- wenn auch nicht dieses Sommers --an.

Uebrigen getrennt hätte. Herr Härtung ist davon ausgegangen, das ganze
Gedicht von Anfang bis zu Ende, die Dienstmädchen am Psingstmorgen mit
eingerechnet, als ein planvolles Kunstwerk zu erklären. Hätte er statt dessen
auf die Entstehung des Gedichts Rücksicht genommen, die beinahe einen Zeit¬
raum von sechzig Jahren umfaßt (1773 — 1832^, innerhalb dessen der Dichter
nicht blos in seinen Plänen wechselte, sondern auch in seinen innern Ansich¬
ten und Ueberzeugungen, so wäre er in jene Mißgriffe nicht verfallen. Noch
zweckmäßiger wäre es gewesen, von einer Vollständigkeit des Commentars
überhaupt abzusehen und unter dem Titel von Beiträgen zum nähern Ver¬
ständniß des Faust nur dasjenige zusammenzustellen, was bisher noch nicht
gesagt worden ist und gesagt werden mußte; denn wenn jeder neue Ausleger
des Faust seine Vorgänger ignorirt und immer von vorn anfängt, so kann
diese Art Literatur noch ein paar Jahrhunderte fortdauern, und wir kommen
in dem richtigen Verständniß keinen Schritt weiter. In dieser Beziehung soll¬
ten wir uns die Philologen zum Muster nehmen, die es durch sorgfältige
Kenntnißnahme ihrer Vorgänger dahin bringen, daß in ihre Arbeiten Zusam¬
menhang kommt und daß man nicht in Gefahr ist, den Gewinn der einzelnen
Anstrengungen wieder zu verlieren. —




Ein Blick auf die bevorstehende Campagne.
z/5) s',

Wenn einerseits die Mitwirkung des preußischen Großstaats beim bewaffne-
ten Pacificationswerke der günstigste Fall wäre, dem die verbündete Krieg¬
führung und im Besonderen die östreichische in ihrem Interesse zu wünschen
hätte, weil er eine concentrirte Verwendung der Streitkräfte des Kaiserreichs,
ohne weitere Vorsichtsmaßregeln und auf naturgemäßer und nicht allzuausgc-
dehuter Fronte gestatten würde, so ist andererseits der sür das wiener Cabinet
zunächst günstig gelegene Fall der, daß Preußen sich zu einer strengen
Neutralität während des ganzen Kriegsverlaufs verpflichten würde. Darum
hat, wie ich hier die Verhandlungen auffaßte, die östreichische Politik in Be¬
zug auf Preußen stets zwei Ziele im Auge zubehalten: als höchsten Preis ihres
Strebens erkennt sie die Mitwirkung der anderen deutschen Großmacht, als
zweiten aber eine bindende Verpflichtung, vermöge welcher das berliner Cabinet
auf eine jede spätere Einmischung Verzicht geleistet hätte. Eine solche Ver¬
zichtleistung, die in gehöriger Form ausgesprochen worden wäre,, würde immerhin



*) Der Verfasser glaubt bei der folgenden Darstellung allgemeiner strategischer Verhält¬
nisse vorläufig von der gegenwärtigen politischen Schwankung Oestreichs absehen zu müssen, er
nimmt eine thätige Theilnahme desselben am Feldzuge — wenn auch nicht dieses Sommers —an.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99695"/>
            <p xml:id="ID_1052" prev="#ID_1051"> Uebrigen getrennt hätte. Herr Härtung ist davon ausgegangen, das ganze<lb/>
Gedicht von Anfang bis zu Ende, die Dienstmädchen am Psingstmorgen mit<lb/>
eingerechnet, als ein planvolles Kunstwerk zu erklären. Hätte er statt dessen<lb/>
auf die Entstehung des Gedichts Rücksicht genommen, die beinahe einen Zeit¬<lb/>
raum von sechzig Jahren umfaßt (1773 &#x2014; 1832^, innerhalb dessen der Dichter<lb/>
nicht blos in seinen Plänen wechselte, sondern auch in seinen innern Ansich¬<lb/>
ten und Ueberzeugungen, so wäre er in jene Mißgriffe nicht verfallen. Noch<lb/>
zweckmäßiger wäre es gewesen, von einer Vollständigkeit des Commentars<lb/>
überhaupt abzusehen und unter dem Titel von Beiträgen zum nähern Ver¬<lb/>
ständniß des Faust nur dasjenige zusammenzustellen, was bisher noch nicht<lb/>
gesagt worden ist und gesagt werden mußte; denn wenn jeder neue Ausleger<lb/>
des Faust seine Vorgänger ignorirt und immer von vorn anfängt, so kann<lb/>
diese Art Literatur noch ein paar Jahrhunderte fortdauern, und wir kommen<lb/>
in dem richtigen Verständniß keinen Schritt weiter. In dieser Beziehung soll¬<lb/>
ten wir uns die Philologen zum Muster nehmen, die es durch sorgfältige<lb/>
Kenntnißnahme ihrer Vorgänger dahin bringen, daß in ihre Arbeiten Zusam¬<lb/>
menhang kommt und daß man nicht in Gefahr ist, den Gewinn der einzelnen<lb/>
Anstrengungen wieder zu verlieren. &#x2014;</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ein Blick auf die bevorstehende Campagne.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> z/5) s',</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1053" next="#ID_1054"> Wenn einerseits die Mitwirkung des preußischen Großstaats beim bewaffne-<lb/>
ten Pacificationswerke der günstigste Fall wäre, dem die verbündete Krieg¬<lb/>
führung und im Besonderen die östreichische in ihrem Interesse zu wünschen<lb/>
hätte, weil er eine concentrirte Verwendung der Streitkräfte des Kaiserreichs,<lb/>
ohne weitere Vorsichtsmaßregeln und auf naturgemäßer und nicht allzuausgc-<lb/>
dehuter Fronte gestatten würde, so ist andererseits der sür das wiener Cabinet<lb/>
zunächst günstig gelegene Fall der, daß Preußen sich zu einer strengen<lb/>
Neutralität während des ganzen Kriegsverlaufs verpflichten würde. Darum<lb/>
hat, wie ich hier die Verhandlungen auffaßte, die östreichische Politik in Be¬<lb/>
zug auf Preußen stets zwei Ziele im Auge zubehalten: als höchsten Preis ihres<lb/>
Strebens erkennt sie die Mitwirkung der anderen deutschen Großmacht, als<lb/>
zweiten aber eine bindende Verpflichtung, vermöge welcher das berliner Cabinet<lb/>
auf eine jede spätere Einmischung Verzicht geleistet hätte. Eine solche Ver¬<lb/>
zichtleistung, die in gehöriger Form ausgesprochen worden wäre,, würde immerhin</p><lb/>
            <note xml:id="FID_15" place="foot"> *) Der Verfasser glaubt bei der folgenden Darstellung allgemeiner strategischer Verhält¬<lb/>
nisse vorläufig von der gegenwärtigen politischen Schwankung Oestreichs absehen zu müssen, er<lb/>
nimmt eine thätige Theilnahme desselben am Feldzuge &#x2014; wenn auch nicht dieses Sommers &#x2014;an.</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0309] Uebrigen getrennt hätte. Herr Härtung ist davon ausgegangen, das ganze Gedicht von Anfang bis zu Ende, die Dienstmädchen am Psingstmorgen mit eingerechnet, als ein planvolles Kunstwerk zu erklären. Hätte er statt dessen auf die Entstehung des Gedichts Rücksicht genommen, die beinahe einen Zeit¬ raum von sechzig Jahren umfaßt (1773 — 1832^, innerhalb dessen der Dichter nicht blos in seinen Plänen wechselte, sondern auch in seinen innern Ansich¬ ten und Ueberzeugungen, so wäre er in jene Mißgriffe nicht verfallen. Noch zweckmäßiger wäre es gewesen, von einer Vollständigkeit des Commentars überhaupt abzusehen und unter dem Titel von Beiträgen zum nähern Ver¬ ständniß des Faust nur dasjenige zusammenzustellen, was bisher noch nicht gesagt worden ist und gesagt werden mußte; denn wenn jeder neue Ausleger des Faust seine Vorgänger ignorirt und immer von vorn anfängt, so kann diese Art Literatur noch ein paar Jahrhunderte fortdauern, und wir kommen in dem richtigen Verständniß keinen Schritt weiter. In dieser Beziehung soll¬ ten wir uns die Philologen zum Muster nehmen, die es durch sorgfältige Kenntnißnahme ihrer Vorgänger dahin bringen, daß in ihre Arbeiten Zusam¬ menhang kommt und daß man nicht in Gefahr ist, den Gewinn der einzelnen Anstrengungen wieder zu verlieren. — Ein Blick auf die bevorstehende Campagne. z/5) s', Wenn einerseits die Mitwirkung des preußischen Großstaats beim bewaffne- ten Pacificationswerke der günstigste Fall wäre, dem die verbündete Krieg¬ führung und im Besonderen die östreichische in ihrem Interesse zu wünschen hätte, weil er eine concentrirte Verwendung der Streitkräfte des Kaiserreichs, ohne weitere Vorsichtsmaßregeln und auf naturgemäßer und nicht allzuausgc- dehuter Fronte gestatten würde, so ist andererseits der sür das wiener Cabinet zunächst günstig gelegene Fall der, daß Preußen sich zu einer strengen Neutralität während des ganzen Kriegsverlaufs verpflichten würde. Darum hat, wie ich hier die Verhandlungen auffaßte, die östreichische Politik in Be¬ zug auf Preußen stets zwei Ziele im Auge zubehalten: als höchsten Preis ihres Strebens erkennt sie die Mitwirkung der anderen deutschen Großmacht, als zweiten aber eine bindende Verpflichtung, vermöge welcher das berliner Cabinet auf eine jede spätere Einmischung Verzicht geleistet hätte. Eine solche Ver¬ zichtleistung, die in gehöriger Form ausgesprochen worden wäre,, würde immerhin *) Der Verfasser glaubt bei der folgenden Darstellung allgemeiner strategischer Verhält¬ nisse vorläufig von der gegenwärtigen politischen Schwankung Oestreichs absehen zu müssen, er nimmt eine thätige Theilnahme desselben am Feldzuge — wenn auch nicht dieses Sommers —an.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/309
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/309>, abgerufen am 05.12.2024.