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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Mädchenscelen gelegt hat, Neugierde, Putzliebe u. s. w. hier Befriedigung
fanden, nährend die Mutter, zwischen den Bedürfnissen des Mädchens und
ihren eignen Empfindungen keinen Unterschied machend, ihr alles versagte."

Diese Art, aus einzelnen Andeutungen des Dichters, die augenscheinlich
nur auf den augenblicklichen Zweck berechnet sind, eine vollständige Biographie
und Charakteristik zusammenzusetzen, gehört zu jener Kleinkrämerei, die uns
auch bei Düntzer die aufrichtige Freude am Dichter so häusig verleidet. --
Allein Herr Härtung steht gegen Düntzer noch dadurch im Nachtheil, daß er
zuweilen in die handgreiflichsten Mißverständnisse verfällt. Wir wollen nur
ein paar anführen. S. 89 behauptet er von Mephistopheles bei dem Besuch
in Gretchens Zimmer, er habe von Fausts Empfindungen keine Ahnung. "Als
Faust sich nicht losreißen kann, so meint er, derselbe stiere auf den Schatz im
Kästchen hin und sei zu geizig, denselben zu opfern" Wie in aller Welt
kann man die schlechten Witze des Teufels für baare Münze nehmen! So ein¬
fältig ist er in der That doch nicht. -- S. 93 bei Gelegenheit der Scene im
Garten. "Als Faust ihre Hände faßt/spricht sie: Mich überläufts! Noch ein¬
mal sprach der Gott in ihr, aber Fällst macht ihn stumm u. s. w." -- Ein
so wunderliches Mißverständniß ist bei einem Verehrer Goethes kaum zu be¬
greifen. Gretchen überläuft nicht der Schauder vor dem Teufel, sondern der
Schauder der ersten Liebe; ein Gefühl, das Goethe in seinen Gedichten häufig ganz
in derselben Art darstellt, jedes Mal mit wunderbarer Wirkung. Aber vollständig
verdutzt werden wir S. -109. "Faust hatte vor, Gretchen zu entführen und
zu Heirath en; denn sie sagt im Kerker: Mein Hochzeittag sollt es sein. Als
er flüchten mußte, gedachte er nicht lange fern zu bleiben u. s. w." Bei allen
Heiligen des Himmels! wo hat Herr Härtung diese erstaunliche Notiz her!
Faust, der dem Teufel Verfallene, der unstet von einem Ort zum andern ge¬
trieben wird, sollte auf die Idee kommen, eine bürgerliche Heirath einzugehen!
Als das gute Kind im Kerker jene'Worte spricht, ist es ja in krankhaften
Phantasien. Wer sich in den Absichten des Dichters auf eine so ungeheure
Weise täuscht, darf sich freilich in dieser Beziehung einen Umgekehrten nennen.--
S. 144 stellt er den Uebergang vom ersten zum zweiten Theil dar. "In dieser
Frist hat Faust sich allmälig von diesem erschütternden Schlage erholt, ist durch
Einkehren in sein. Inneres gebessert worden, und hat durch Umganti, mit Gott
in der Natur wieder Kraft gewonnen zu neuem Wirken." Wo steht das ge¬
schrieben? Wir hören wol, daß Faust seine Vergangenheit vergessen hat, aber
wie dieser Proceß seines Innern vorgegangen ist, darüber erzählt uns der
Dichter nichts; und der Ausleger hat doch wol nicht die Aufgabe, zu erzählen,
was hätte geschehen können, sondern was geschehen ist.

Nun finden sich neben diesen Irrthümern in dem Buch soviel brauchbare
Notizen, Parallelstellen, WortelklÄrungen u. s. w., daß man dies gern von dem


Mädchenscelen gelegt hat, Neugierde, Putzliebe u. s. w. hier Befriedigung
fanden, nährend die Mutter, zwischen den Bedürfnissen des Mädchens und
ihren eignen Empfindungen keinen Unterschied machend, ihr alles versagte."

Diese Art, aus einzelnen Andeutungen des Dichters, die augenscheinlich
nur auf den augenblicklichen Zweck berechnet sind, eine vollständige Biographie
und Charakteristik zusammenzusetzen, gehört zu jener Kleinkrämerei, die uns
auch bei Düntzer die aufrichtige Freude am Dichter so häusig verleidet. —
Allein Herr Härtung steht gegen Düntzer noch dadurch im Nachtheil, daß er
zuweilen in die handgreiflichsten Mißverständnisse verfällt. Wir wollen nur
ein paar anführen. S. 89 behauptet er von Mephistopheles bei dem Besuch
in Gretchens Zimmer, er habe von Fausts Empfindungen keine Ahnung. „Als
Faust sich nicht losreißen kann, so meint er, derselbe stiere auf den Schatz im
Kästchen hin und sei zu geizig, denselben zu opfern" Wie in aller Welt
kann man die schlechten Witze des Teufels für baare Münze nehmen! So ein¬
fältig ist er in der That doch nicht. — S. 93 bei Gelegenheit der Scene im
Garten. „Als Faust ihre Hände faßt/spricht sie: Mich überläufts! Noch ein¬
mal sprach der Gott in ihr, aber Fällst macht ihn stumm u. s. w." — Ein
so wunderliches Mißverständniß ist bei einem Verehrer Goethes kaum zu be¬
greifen. Gretchen überläuft nicht der Schauder vor dem Teufel, sondern der
Schauder der ersten Liebe; ein Gefühl, das Goethe in seinen Gedichten häufig ganz
in derselben Art darstellt, jedes Mal mit wunderbarer Wirkung. Aber vollständig
verdutzt werden wir S. -109. „Faust hatte vor, Gretchen zu entführen und
zu Heirath en; denn sie sagt im Kerker: Mein Hochzeittag sollt es sein. Als
er flüchten mußte, gedachte er nicht lange fern zu bleiben u. s. w." Bei allen
Heiligen des Himmels! wo hat Herr Härtung diese erstaunliche Notiz her!
Faust, der dem Teufel Verfallene, der unstet von einem Ort zum andern ge¬
trieben wird, sollte auf die Idee kommen, eine bürgerliche Heirath einzugehen!
Als das gute Kind im Kerker jene'Worte spricht, ist es ja in krankhaften
Phantasien. Wer sich in den Absichten des Dichters auf eine so ungeheure
Weise täuscht, darf sich freilich in dieser Beziehung einen Umgekehrten nennen.—
S. 144 stellt er den Uebergang vom ersten zum zweiten Theil dar. „In dieser
Frist hat Faust sich allmälig von diesem erschütternden Schlage erholt, ist durch
Einkehren in sein. Inneres gebessert worden, und hat durch Umganti, mit Gott
in der Natur wieder Kraft gewonnen zu neuem Wirken." Wo steht das ge¬
schrieben? Wir hören wol, daß Faust seine Vergangenheit vergessen hat, aber
wie dieser Proceß seines Innern vorgegangen ist, darüber erzählt uns der
Dichter nichts; und der Ausleger hat doch wol nicht die Aufgabe, zu erzählen,
was hätte geschehen können, sondern was geschehen ist.

Nun finden sich neben diesen Irrthümern in dem Buch soviel brauchbare
Notizen, Parallelstellen, WortelklÄrungen u. s. w., daß man dies gern von dem


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[0308] Mädchenscelen gelegt hat, Neugierde, Putzliebe u. s. w. hier Befriedigung fanden, nährend die Mutter, zwischen den Bedürfnissen des Mädchens und ihren eignen Empfindungen keinen Unterschied machend, ihr alles versagte." Diese Art, aus einzelnen Andeutungen des Dichters, die augenscheinlich nur auf den augenblicklichen Zweck berechnet sind, eine vollständige Biographie und Charakteristik zusammenzusetzen, gehört zu jener Kleinkrämerei, die uns auch bei Düntzer die aufrichtige Freude am Dichter so häusig verleidet. — Allein Herr Härtung steht gegen Düntzer noch dadurch im Nachtheil, daß er zuweilen in die handgreiflichsten Mißverständnisse verfällt. Wir wollen nur ein paar anführen. S. 89 behauptet er von Mephistopheles bei dem Besuch in Gretchens Zimmer, er habe von Fausts Empfindungen keine Ahnung. „Als Faust sich nicht losreißen kann, so meint er, derselbe stiere auf den Schatz im Kästchen hin und sei zu geizig, denselben zu opfern" Wie in aller Welt kann man die schlechten Witze des Teufels für baare Münze nehmen! So ein¬ fältig ist er in der That doch nicht. — S. 93 bei Gelegenheit der Scene im Garten. „Als Faust ihre Hände faßt/spricht sie: Mich überläufts! Noch ein¬ mal sprach der Gott in ihr, aber Fällst macht ihn stumm u. s. w." — Ein so wunderliches Mißverständniß ist bei einem Verehrer Goethes kaum zu be¬ greifen. Gretchen überläuft nicht der Schauder vor dem Teufel, sondern der Schauder der ersten Liebe; ein Gefühl, das Goethe in seinen Gedichten häufig ganz in derselben Art darstellt, jedes Mal mit wunderbarer Wirkung. Aber vollständig verdutzt werden wir S. -109. „Faust hatte vor, Gretchen zu entführen und zu Heirath en; denn sie sagt im Kerker: Mein Hochzeittag sollt es sein. Als er flüchten mußte, gedachte er nicht lange fern zu bleiben u. s. w." Bei allen Heiligen des Himmels! wo hat Herr Härtung diese erstaunliche Notiz her! Faust, der dem Teufel Verfallene, der unstet von einem Ort zum andern ge¬ trieben wird, sollte auf die Idee kommen, eine bürgerliche Heirath einzugehen! Als das gute Kind im Kerker jene'Worte spricht, ist es ja in krankhaften Phantasien. Wer sich in den Absichten des Dichters auf eine so ungeheure Weise täuscht, darf sich freilich in dieser Beziehung einen Umgekehrten nennen.— S. 144 stellt er den Uebergang vom ersten zum zweiten Theil dar. „In dieser Frist hat Faust sich allmälig von diesem erschütternden Schlage erholt, ist durch Einkehren in sein. Inneres gebessert worden, und hat durch Umganti, mit Gott in der Natur wieder Kraft gewonnen zu neuem Wirken." Wo steht das ge¬ schrieben? Wir hören wol, daß Faust seine Vergangenheit vergessen hat, aber wie dieser Proceß seines Innern vorgegangen ist, darüber erzählt uns der Dichter nichts; und der Ausleger hat doch wol nicht die Aufgabe, zu erzählen, was hätte geschehen können, sondern was geschehen ist. Nun finden sich neben diesen Irrthümern in dem Buch soviel brauchbare Notizen, Parallelstellen, WortelklÄrungen u. s. w., daß man dies gern von dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/308>, abgerufen am 01.07.2024.