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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Denn Er ist eures Opfers heilge Wirkung,
Das süße Krastgedüst des ganzen Himmels!
Noch voll Empfindung bin ich eures Webens,
Und was ich alles war und alles hatte.
Es ward mir sanfte Thräne in den Augen,
Daß es die Sonne nur als Diamant,
Als funkelnd-bunten Tropfen Thaues schmückte.
Ja, ja! Die Sonne ist mir immer pünktlich
An jedem Morgen auf-, an jedem Abend
Hinabgegangen, und der Mond gekommen,
Der Schlaf zum rechten müden Augenblick.
Am rechten Abend stand die Jungfrau mir
Zum Weibe da! -- Am rechten Morgen richtig
Lag ihr ein Kind im Schoß; zur rechten Zeit
War ihm die Erdbeer, war die Kirsche reif.
So wurden uns die Monde reif zusammen --
Die Jahre wurden nacheinander reif.
Zur rechten Stunde ward das erste Haar
Mir reif. Zum rechten Augenblicke starb --
Nach eurer himmlisch-treu gewissenhaften
Und wundervollen höchsten Kunst -- mein Weib.
Dies schwere Lob versetzt mir meinen Athem --
Kür alles seid bedankt mit tausend Thränen!
Zur rechten Stunde werdet ihr mir nahen
Und mich verwandeln, wie den Todten ziemt,
Auf daß ihr Ehre habt bei euren Menschen.
Ich hab euch wohl gelebt. Nun lebt ihr mir wohl
Ich nehme selbst mir meinen Schatten mit.
Und so entlaß ich euch aus meinem Dienst.



Goethes Prometheus vollständig.
Ein Beitrag zur Goetheforschung.

Die Gegenwart hat Merkwürdiges geleistet in Wiederauffindung von
Thatsachen, welche, im Zeitenstrome untergetaucht, von ihm längst zerstört
schienen, und zwar erreichte sie dies nicht blos durch sozusagen handgreifliche
Forschung, sondern auch durch scharfsinnig zusammenstellende, durch Kritik.
Man kennt nicht allein nach mehrtausendjährigem Begrabensein die assyrische
Welt jetzt besser, als man sie zu jener Zeit kannte, da sie eben erst unter¬
gegangen war, sondern man kennt jetzt auch die Jugend Goethes besser, als


Denn Er ist eures Opfers heilge Wirkung,
Das süße Krastgedüst des ganzen Himmels!
Noch voll Empfindung bin ich eures Webens,
Und was ich alles war und alles hatte.
Es ward mir sanfte Thräne in den Augen,
Daß es die Sonne nur als Diamant,
Als funkelnd-bunten Tropfen Thaues schmückte.
Ja, ja! Die Sonne ist mir immer pünktlich
An jedem Morgen auf-, an jedem Abend
Hinabgegangen, und der Mond gekommen,
Der Schlaf zum rechten müden Augenblick.
Am rechten Abend stand die Jungfrau mir
Zum Weibe da! — Am rechten Morgen richtig
Lag ihr ein Kind im Schoß; zur rechten Zeit
War ihm die Erdbeer, war die Kirsche reif.
So wurden uns die Monde reif zusammen —
Die Jahre wurden nacheinander reif.
Zur rechten Stunde ward das erste Haar
Mir reif. Zum rechten Augenblicke starb —
Nach eurer himmlisch-treu gewissenhaften
Und wundervollen höchsten Kunst — mein Weib.
Dies schwere Lob versetzt mir meinen Athem —
Kür alles seid bedankt mit tausend Thränen!
Zur rechten Stunde werdet ihr mir nahen
Und mich verwandeln, wie den Todten ziemt,
Auf daß ihr Ehre habt bei euren Menschen.
Ich hab euch wohl gelebt. Nun lebt ihr mir wohl
Ich nehme selbst mir meinen Schatten mit.
Und so entlaß ich euch aus meinem Dienst.



Goethes Prometheus vollständig.
Ein Beitrag zur Goetheforschung.

Die Gegenwart hat Merkwürdiges geleistet in Wiederauffindung von
Thatsachen, welche, im Zeitenstrome untergetaucht, von ihm längst zerstört
schienen, und zwar erreichte sie dies nicht blos durch sozusagen handgreifliche
Forschung, sondern auch durch scharfsinnig zusammenstellende, durch Kritik.
Man kennt nicht allein nach mehrtausendjährigem Begrabensein die assyrische
Welt jetzt besser, als man sie zu jener Zeit kannte, da sie eben erst unter¬
gegangen war, sondern man kennt jetzt auch die Jugend Goethes besser, als


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[0029] Denn Er ist eures Opfers heilge Wirkung, Das süße Krastgedüst des ganzen Himmels! Noch voll Empfindung bin ich eures Webens, Und was ich alles war und alles hatte. Es ward mir sanfte Thräne in den Augen, Daß es die Sonne nur als Diamant, Als funkelnd-bunten Tropfen Thaues schmückte. Ja, ja! Die Sonne ist mir immer pünktlich An jedem Morgen auf-, an jedem Abend Hinabgegangen, und der Mond gekommen, Der Schlaf zum rechten müden Augenblick. Am rechten Abend stand die Jungfrau mir Zum Weibe da! — Am rechten Morgen richtig Lag ihr ein Kind im Schoß; zur rechten Zeit War ihm die Erdbeer, war die Kirsche reif. So wurden uns die Monde reif zusammen — Die Jahre wurden nacheinander reif. Zur rechten Stunde ward das erste Haar Mir reif. Zum rechten Augenblicke starb — Nach eurer himmlisch-treu gewissenhaften Und wundervollen höchsten Kunst — mein Weib. Dies schwere Lob versetzt mir meinen Athem — Kür alles seid bedankt mit tausend Thränen! Zur rechten Stunde werdet ihr mir nahen Und mich verwandeln, wie den Todten ziemt, Auf daß ihr Ehre habt bei euren Menschen. Ich hab euch wohl gelebt. Nun lebt ihr mir wohl Ich nehme selbst mir meinen Schatten mit. Und so entlaß ich euch aus meinem Dienst. Goethes Prometheus vollständig. Ein Beitrag zur Goetheforschung. Die Gegenwart hat Merkwürdiges geleistet in Wiederauffindung von Thatsachen, welche, im Zeitenstrome untergetaucht, von ihm längst zerstört schienen, und zwar erreichte sie dies nicht blos durch sozusagen handgreifliche Forschung, sondern auch durch scharfsinnig zusammenstellende, durch Kritik. Man kennt nicht allein nach mehrtausendjährigem Begrabensein die assyrische Welt jetzt besser, als man sie zu jener Zeit kannte, da sie eben erst unter¬ gegangen war, sondern man kennt jetzt auch die Jugend Goethes besser, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/29>, abgerufen am 22.07.2024.