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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Goethe der Greis sie kannte: man weiß nach 80 Jahren genan, was Goethe
damals gewollt hat, obgleich er selbst uns sein Wollen anders kundgegeben
hat; man hat unumstößlich nachgewiesen, daß Goethe irrte, als er sein Gedicht
"Prometheus"*) für ein Stück Fortsetzung des gleichnamigen Dramas**)
erklärte und daß vielmehr dieses Drama kein Fragment, sondern ein voll¬
endetes Werk ist.***)

Ob aber jenes Gedicht, wenn es nicht -- wie Goethe später meinte --
der Anfang eines dritten Auszugs sein kann, eben nur ein den Kern des
Dramas in sich schließendes Gedicht sür sich sein sollte -- wie Viehoffl') will
--- oder aber als Anfangsmonolog des umzuarbeitenden Dramas bestimmt
war -- wie Düntzer annimmt -- darüber schwebt der Streit noch.

Mir scheint nichts von diesem richtig; ich vermuthe vielmehr, daß dasselbe
als Monolog dort eingeschoben werden sollte, wo jetzt im zweiten Aufzuge das
kurze, sich zum Theil am Schlüsse des Gedichts wiederfindende Selbstgespräch
des Prometheus steht:

Sieh nieder, Zeus,
Auf meine Welt: sie lebt!
Ich habe sie geformt nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, weinen, zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,

Meine Gründe sind kürzlich folgende:

Um am Anfang eines neuen Dramas zu stehn, wohin es Düntzer setzt,
ist das Gedicht allzu gehaltreich. Als Eingang müßte es schlechthin betäuben;
der Trotz gegen den Göttervater wäre zu plötzlich ausgebildet; die Menschen¬
erschaffung fiele zu plump ins Stück herein.

Läßt man dagegen das jetzige Drama bis zur zweiten Scene des zweiten
Acts unangetastet gelten, so tritt zwar Prometheus auch hier gleich bei der
Eröffnung trotzig aus, aber doch noch unterhandelnd; sein Trotz entwickelt sich
erst stärker, da Merkur und Prometheus ihn zum Nachgeben drängen. Dieser
Trotz wird auch durch die erste Scene des zweiten Acts gewissermaßen gerecht¬
fertigt, da sich Merkur wiederholt ölos als Gegner mit schroff aristokratischen
Prätensionen zeigt, welche Prometheus, der die Götter nur nach ihrem Boten
beurtheilt, für das Wesen auch des Zeus nehmen durfte, obwol dieser in der




Goethes Prometheus und Pandora. Ein Versuch zur Erklärung und Ausdeutung
dieser Dichtungen. Von Heinrich Düntzer. Neue mit einem Nachtrage vermehrte Ausgabe-
Leipzig, Dyrschc Buchhandlung. 18!ii. (S. 4-0 fg.).
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Goethes sämmtliche Werke in ii> Bänden- Z- Band, S. ">2 nud 7. Band, S. 2i8.
") Ebenda, 7- Band, S. ZZ" fgg.
1) Eommentar zu Goethes Gedichten , Zi8 fg.
Goethes Werke. 7. Band, S. 2it.

Goethe der Greis sie kannte: man weiß nach 80 Jahren genan, was Goethe
damals gewollt hat, obgleich er selbst uns sein Wollen anders kundgegeben
hat; man hat unumstößlich nachgewiesen, daß Goethe irrte, als er sein Gedicht
„Prometheus"*) für ein Stück Fortsetzung des gleichnamigen Dramas**)
erklärte und daß vielmehr dieses Drama kein Fragment, sondern ein voll¬
endetes Werk ist.***)

Ob aber jenes Gedicht, wenn es nicht — wie Goethe später meinte —
der Anfang eines dritten Auszugs sein kann, eben nur ein den Kern des
Dramas in sich schließendes Gedicht sür sich sein sollte — wie Viehoffl') will
—- oder aber als Anfangsmonolog des umzuarbeitenden Dramas bestimmt
war — wie Düntzer annimmt — darüber schwebt der Streit noch.

Mir scheint nichts von diesem richtig; ich vermuthe vielmehr, daß dasselbe
als Monolog dort eingeschoben werden sollte, wo jetzt im zweiten Aufzuge das
kurze, sich zum Theil am Schlüsse des Gedichts wiederfindende Selbstgespräch
des Prometheus steht:

Sieh nieder, Zeus,
Auf meine Welt: sie lebt!
Ich habe sie geformt nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, weinen, zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,

Meine Gründe sind kürzlich folgende:

Um am Anfang eines neuen Dramas zu stehn, wohin es Düntzer setzt,
ist das Gedicht allzu gehaltreich. Als Eingang müßte es schlechthin betäuben;
der Trotz gegen den Göttervater wäre zu plötzlich ausgebildet; die Menschen¬
erschaffung fiele zu plump ins Stück herein.

Läßt man dagegen das jetzige Drama bis zur zweiten Scene des zweiten
Acts unangetastet gelten, so tritt zwar Prometheus auch hier gleich bei der
Eröffnung trotzig aus, aber doch noch unterhandelnd; sein Trotz entwickelt sich
erst stärker, da Merkur und Prometheus ihn zum Nachgeben drängen. Dieser
Trotz wird auch durch die erste Scene des zweiten Acts gewissermaßen gerecht¬
fertigt, da sich Merkur wiederholt ölos als Gegner mit schroff aristokratischen
Prätensionen zeigt, welche Prometheus, der die Götter nur nach ihrem Boten
beurtheilt, für das Wesen auch des Zeus nehmen durfte, obwol dieser in der




Goethes Prometheus und Pandora. Ein Versuch zur Erklärung und Ausdeutung
dieser Dichtungen. Von Heinrich Düntzer. Neue mit einem Nachtrage vermehrte Ausgabe-
Leipzig, Dyrschc Buchhandlung. 18!ii. (S. 4-0 fg.).
-I




Goethes sämmtliche Werke in ii> Bänden- Z- Band, S. «>2 nud 7. Band, S. 2i8.
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[0030] Goethe der Greis sie kannte: man weiß nach 80 Jahren genan, was Goethe damals gewollt hat, obgleich er selbst uns sein Wollen anders kundgegeben hat; man hat unumstößlich nachgewiesen, daß Goethe irrte, als er sein Gedicht „Prometheus"*) für ein Stück Fortsetzung des gleichnamigen Dramas**) erklärte und daß vielmehr dieses Drama kein Fragment, sondern ein voll¬ endetes Werk ist.***) Ob aber jenes Gedicht, wenn es nicht — wie Goethe später meinte — der Anfang eines dritten Auszugs sein kann, eben nur ein den Kern des Dramas in sich schließendes Gedicht sür sich sein sollte — wie Viehoffl') will —- oder aber als Anfangsmonolog des umzuarbeitenden Dramas bestimmt war — wie Düntzer annimmt — darüber schwebt der Streit noch. Mir scheint nichts von diesem richtig; ich vermuthe vielmehr, daß dasselbe als Monolog dort eingeschoben werden sollte, wo jetzt im zweiten Aufzuge das kurze, sich zum Theil am Schlüsse des Gedichts wiederfindende Selbstgespräch des Prometheus steht: Sieh nieder, Zeus, Auf meine Welt: sie lebt! Ich habe sie geformt nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei. Zu leiden, weinen, zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Meine Gründe sind kürzlich folgende: Um am Anfang eines neuen Dramas zu stehn, wohin es Düntzer setzt, ist das Gedicht allzu gehaltreich. Als Eingang müßte es schlechthin betäuben; der Trotz gegen den Göttervater wäre zu plötzlich ausgebildet; die Menschen¬ erschaffung fiele zu plump ins Stück herein. Läßt man dagegen das jetzige Drama bis zur zweiten Scene des zweiten Acts unangetastet gelten, so tritt zwar Prometheus auch hier gleich bei der Eröffnung trotzig aus, aber doch noch unterhandelnd; sein Trotz entwickelt sich erst stärker, da Merkur und Prometheus ihn zum Nachgeben drängen. Dieser Trotz wird auch durch die erste Scene des zweiten Acts gewissermaßen gerecht¬ fertigt, da sich Merkur wiederholt ölos als Gegner mit schroff aristokratischen Prätensionen zeigt, welche Prometheus, der die Götter nur nach ihrem Boten beurtheilt, für das Wesen auch des Zeus nehmen durfte, obwol dieser in der Goethes Prometheus und Pandora. Ein Versuch zur Erklärung und Ausdeutung dieser Dichtungen. Von Heinrich Düntzer. Neue mit einem Nachtrage vermehrte Ausgabe- Leipzig, Dyrschc Buchhandlung. 18!ii. (S. 4-0 fg.). -I Goethes sämmtliche Werke in ii> Bänden- Z- Band, S. «>2 nud 7. Band, S. 2i8. ") Ebenda, 7- Band, S. ZZ» fgg. 1) Eommentar zu Goethes Gedichten , Zi8 fg. Goethes Werke. 7. Band, S. 2it.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/30>, abgerufen am 23.07.2024.