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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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die hat sie nicht erlernt, so wenig als das Sehcrange, mit dem sie in die
Menschenbrust blickt.... Dabei die feine Nuancirnng in der Charakteristik ohne
Koketterie, diese geistvolle Auffassung "ut D nrchgei stigun g der Rolle und
die ruhige Plastik selbst in den leidenschaftlichsten Momenten, und das alles mit
einem Taufschein, der noch nicht achtzehn Lenze nachweist -- wahrlich, wer da
nicht an den gebornen Genius glaubt, der möge ewig dem Handwerke seine Be¬
wunderung zollen, die wahre Kunst wird er nie begreifen." -- So spricht man
wol im Jahre 18ni, so sprach mau aber nicht 177i-, Wenn dieser Ton der
höhern Prosa verfehlt ist, so gilt das noch weit mehr von der gewöhnlichen
Form der Unterredung. Auch darin hat jedes Zeitalter seine eigne Art und
Weise; Herr Müller tritt aber aus dem seinigen nicht heraus. Wenn so die
Charakteristik jener Literaturperiode als verfehlt bezeichnet werden muß, so drängt
wieder ans der andern Seite die literarhistorische Genremalerei und die Reflexion
über Gegenstände der Kunst und der Gelehrsamkeit das eigentliche Nomaninteresse
zurück und so werden wir nach keiner Seite hin befriedigt. -- Die Gattung ist
auch von mehren andern Schriftstellern angebaut, z. B. von Heinrich König,
Klencke u. s. w. Dem raisounirendeu halbgebildeter Publicum unserer Tage hat
man dadurch wol dankbaren Stoff zu neuem Raisonnement geboten, aber weder
den echten Liebhaber, der unmittelbar afficirt sein will, noch den Kenner hat mau
befriedigt. Um ein -solches Gemälde auch nnr einigermaßen naturgetreu und in¬
teressant zu machen, ist ein sehr feines historisches Verständniß.und ein ganz außer¬
ordentliches Talent der Nachbildung erforderlich, und wer das besitzt, kann etwas
Besseres machen. --


- Marguerite, Roman von Dr. Christian Birch. 3 Bände. Berlin, Bereins-
buchhcmdlung. --

Dieser Roman gehört dem entgegengesetzten Genre an, er sucht durch die
Wucht der Thatsachen und Schilderungen zu wirken. Das Talent des Verfassers
läßt sich mit dem von Engen Tue und seiner Schule vergleiche", womit wir aber
nicht an die Liederlichkeiten und Unsittlichkeiten dieser Franzosen erinnern wolle"'
sondern nur an die Fähigkeit, lebhast und mit einer gewissen Ueberreizung der
Phantasie zu schildern. Einzelne von diesen Schilderungen sind vollkommen ge¬
lungen, namentlich in den ersten Theilen, die ans den Antillen spielen, weniger
die Schilderungen ans Paris. Aber in der Composition ist der Verfasser schwach.
In der Aufeinanderfolge der Thatsachen herrscht die absolute Willkür. Die
wunderbarsten Zufälligkeiten und die buntesten Abenteuer drangen sich so hart
aneinander, daß unsere Phantasie abgespannt wird und zuletzt auch das Un¬
gewöhnlichste mit Gleichgültigkeit hinnimmt. Außerdem hat es der Verfasser darin
versehen, daß er sich zu sehr in die .Breite ausdehnt, daß er uns gleich zu
Anfang eine Menge von Personen vorführt, für die wir nus uicht im geringsten


Grenzboten, II- -l8si.

die hat sie nicht erlernt, so wenig als das Sehcrange, mit dem sie in die
Menschenbrust blickt.... Dabei die feine Nuancirnng in der Charakteristik ohne
Koketterie, diese geistvolle Auffassung »ut D nrchgei stigun g der Rolle und
die ruhige Plastik selbst in den leidenschaftlichsten Momenten, und das alles mit
einem Taufschein, der noch nicht achtzehn Lenze nachweist — wahrlich, wer da
nicht an den gebornen Genius glaubt, der möge ewig dem Handwerke seine Be¬
wunderung zollen, die wahre Kunst wird er nie begreifen." — So spricht man
wol im Jahre 18ni, so sprach mau aber nicht 177i-, Wenn dieser Ton der
höhern Prosa verfehlt ist, so gilt das noch weit mehr von der gewöhnlichen
Form der Unterredung. Auch darin hat jedes Zeitalter seine eigne Art und
Weise; Herr Müller tritt aber aus dem seinigen nicht heraus. Wenn so die
Charakteristik jener Literaturperiode als verfehlt bezeichnet werden muß, so drängt
wieder ans der andern Seite die literarhistorische Genremalerei und die Reflexion
über Gegenstände der Kunst und der Gelehrsamkeit das eigentliche Nomaninteresse
zurück und so werden wir nach keiner Seite hin befriedigt. — Die Gattung ist
auch von mehren andern Schriftstellern angebaut, z. B. von Heinrich König,
Klencke u. s. w. Dem raisounirendeu halbgebildeter Publicum unserer Tage hat
man dadurch wol dankbaren Stoff zu neuem Raisonnement geboten, aber weder
den echten Liebhaber, der unmittelbar afficirt sein will, noch den Kenner hat mau
befriedigt. Um ein -solches Gemälde auch nnr einigermaßen naturgetreu und in¬
teressant zu machen, ist ein sehr feines historisches Verständniß.und ein ganz außer¬
ordentliches Talent der Nachbildung erforderlich, und wer das besitzt, kann etwas
Besseres machen. —


- Marguerite, Roman von Dr. Christian Birch. 3 Bände. Berlin, Bereins-
buchhcmdlung. —

Dieser Roman gehört dem entgegengesetzten Genre an, er sucht durch die
Wucht der Thatsachen und Schilderungen zu wirken. Das Talent des Verfassers
läßt sich mit dem von Engen Tue und seiner Schule vergleiche», womit wir aber
nicht an die Liederlichkeiten und Unsittlichkeiten dieser Franzosen erinnern wolle»'
sondern nur an die Fähigkeit, lebhast und mit einer gewissen Ueberreizung der
Phantasie zu schildern. Einzelne von diesen Schilderungen sind vollkommen ge¬
lungen, namentlich in den ersten Theilen, die ans den Antillen spielen, weniger
die Schilderungen ans Paris. Aber in der Composition ist der Verfasser schwach.
In der Aufeinanderfolge der Thatsachen herrscht die absolute Willkür. Die
wunderbarsten Zufälligkeiten und die buntesten Abenteuer drangen sich so hart
aneinander, daß unsere Phantasie abgespannt wird und zuletzt auch das Un¬
gewöhnlichste mit Gleichgültigkeit hinnimmt. Außerdem hat es der Verfasser darin
versehen, daß er sich zu sehr in die .Breite ausdehnt, daß er uns gleich zu
Anfang eine Menge von Personen vorführt, für die wir nus uicht im geringsten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/96>, abgerufen am 03.07.2024.