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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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der Dichter sie an lebendigen Gestalten entwickelte. Die bloße Satire und
Rhetorik ist weder künstlerisch, noch erreicht sie ihren Zweck. Die, Figuren der
engherzigen Egoisten, die Dickens schildert, sind bloße Fratzen, die keiner realen
Anschauung entsprechen, und seinen Gemüthsmenschen fehlt aller Halt. Die
Erzählung ist unklar und verwaschen und voll von Widersprüchen, und die
Sünden gegen das Gesetz der Wahrheit sind dies Mal so zahlreich und werden
so wenig durch jene glänzenden Schilderungen, deren man sich sonst bei dem
Dichter erfreut, aufgewogen, daß wol nicht leicht jemand das Buch befriedigt
aus der Hand legen wird. Daß einzelne feine und geistvolle Züge auch hier
vorkommen, versteht sich von selbst; aber sie werden durch die Masse deS Un¬
bedeutenden und Verdrießlichen unterdückt. -- Möchte der Dichter recht bald
durch einen neuen Aufschwung seine Freunde und Verehrer erfreuen. --


Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in -12 Bd. --
Berlin, G. Reimer. --

Wir haben uns mit dieser Sammlung bereits so vielfältig und ausführlich -
beschäftigt, daß wir uns dies Mal beim Schluß derselben damit begnügen, noch
einmal auf die literarhistorische Bedeutung dieser Novellen hinzuweisen, und zu
wünschen, das man sie mit der Unbefangenheit des Urtheils, die eine un¬
zweifelhaft falsche Richtung nothwendig macht, aber auch mit jener Aufmerksam¬
keit lesen möge, die das ernste Streben eines bedeutenden und auch in seinen
Verirrungen interessanten Talents verdient. --


Novellen von Paul Heyse. Berlin, Hertz. --

Eine recht schöne und anziehende Sammlung, die unter allen Dichtungen
Heyses auf uns den reinsten Eindruck gemacht hat. In den Hermen kämpft
er zu sehr mit der Form, und ist auch in der Auswahl seiner Stoffe nicht
immer glücklich; in diesen vier Novellen dagegen waltet ein warmes und inniges
Gemüth, die Stimmung ist durchaus poetisch, die Farbe ist nicht äußerlich
aufgelegt, sondern drückt den innern Charakter der Gegenstände aus, und die
seltene Zartheit der Empfindung wird nicht durch Weichlichkeit getrübt. Die
gemüthvolle Erzählung vom blinden Mädchen, die komische von der Dichter-
srau, die ernste und nachdenkliche vom Tiberuser sind sämmtlich ansprechend
und charakteristisch. Den Preis aber geben wir dem heitern und frischen Ge¬
mälde: La Rabbiata.^ --


Luftschlösser. Vom Verfasser des "Schief-Levinche". Hamburg, Hoffmann
u. Campe. --

Der jüdische Sittenroman "Schief-Levinche", als dessen Verfasser sich
Herr Schiff zu erkennen gibt, erschien im Jahre 1848 und wurde wenig


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der Dichter sie an lebendigen Gestalten entwickelte. Die bloße Satire und
Rhetorik ist weder künstlerisch, noch erreicht sie ihren Zweck. Die, Figuren der
engherzigen Egoisten, die Dickens schildert, sind bloße Fratzen, die keiner realen
Anschauung entsprechen, und seinen Gemüthsmenschen fehlt aller Halt. Die
Erzählung ist unklar und verwaschen und voll von Widersprüchen, und die
Sünden gegen das Gesetz der Wahrheit sind dies Mal so zahlreich und werden
so wenig durch jene glänzenden Schilderungen, deren man sich sonst bei dem
Dichter erfreut, aufgewogen, daß wol nicht leicht jemand das Buch befriedigt
aus der Hand legen wird. Daß einzelne feine und geistvolle Züge auch hier
vorkommen, versteht sich von selbst; aber sie werden durch die Masse deS Un¬
bedeutenden und Verdrießlichen unterdückt. — Möchte der Dichter recht bald
durch einen neuen Aufschwung seine Freunde und Verehrer erfreuen. —


Ludwig Tiecks gesammelte Novellen. Vollständige Ausgabe in -12 Bd. —
Berlin, G. Reimer. —

Wir haben uns mit dieser Sammlung bereits so vielfältig und ausführlich -
beschäftigt, daß wir uns dies Mal beim Schluß derselben damit begnügen, noch
einmal auf die literarhistorische Bedeutung dieser Novellen hinzuweisen, und zu
wünschen, das man sie mit der Unbefangenheit des Urtheils, die eine un¬
zweifelhaft falsche Richtung nothwendig macht, aber auch mit jener Aufmerksam¬
keit lesen möge, die das ernste Streben eines bedeutenden und auch in seinen
Verirrungen interessanten Talents verdient. —


Novellen von Paul Heyse. Berlin, Hertz. —

Eine recht schöne und anziehende Sammlung, die unter allen Dichtungen
Heyses auf uns den reinsten Eindruck gemacht hat. In den Hermen kämpft
er zu sehr mit der Form, und ist auch in der Auswahl seiner Stoffe nicht
immer glücklich; in diesen vier Novellen dagegen waltet ein warmes und inniges
Gemüth, die Stimmung ist durchaus poetisch, die Farbe ist nicht äußerlich
aufgelegt, sondern drückt den innern Charakter der Gegenstände aus, und die
seltene Zartheit der Empfindung wird nicht durch Weichlichkeit getrübt. Die
gemüthvolle Erzählung vom blinden Mädchen, die komische von der Dichter-
srau, die ernste und nachdenkliche vom Tiberuser sind sämmtlich ansprechend
und charakteristisch. Den Preis aber geben wir dem heitern und frischen Ge¬
mälde: La Rabbiata.^ —


Luftschlösser. Vom Verfasser des „Schief-Levinche". Hamburg, Hoffmann
u. Campe. —

Der jüdische Sittenroman „Schief-Levinche", als dessen Verfasser sich
Herr Schiff zu erkennen gibt, erschien im Jahre 1848 und wurde wenig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/411>, abgerufen am 03.07.2024.