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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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beachtet, bis Heine die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. "Dieser dumme Kerl,"
sagt er, "ist ein wahres Genie. Er hat mehr plastische Darstellungsgabe, als
alle neuern Poeten zusammen, die jetzt in Deutschland leben. Es ist kaum
zu begreifen, daß er sowenig Anerkennung gefunden hat. Sein Buch ist tief¬
sinnig, voll sprudelnden Witzes, wahrhaft künstlerisch, und was die Hauptsache
ist, es hat das Verdienst, mich unendlich amüsirt zu haben." -- Was die
gegenwärtigen Phantasiestücke betrifft, so ist ein plastisches Talent, sowie leb¬
haftes Gefühl für das Originelle und Komische nicht zu verkennen; aber gegen
die Art des Humors, wie er seit den Zeiten der Romantik in Deutschland ge¬
trieben wird, daß man nämlich nie weiß, ob der Verfasser Ernst oder Scherz
treibt, hätten wir vieles einzuwenden. Will man sich im phantastischen Gebiet
bewegen, so muß man sich nicht auf ausführliche Schilderungen einlassen, und
will man das wirkliche Leben darstellen, so muß man auf dem Erdboden fest¬
stehen. Die Vermischung der phantastischen und der realen Welt kann nur
eine ganz ungewöhnliche Dichternatur rechtfertigen, und diese ist hier doch nicht
in so hohem Grade vorhanden. Am gelungensten scheint uns die Skizze:
Helden des dreißigjährigen Friedens. "Napoleons Kanonendonner war ver¬
hallt. In der Welt war es still geworden. Die Zeit der Helden und Männer
war vorüber, die Weltgeschichte hatte sich in Niescngeburten erschöpft, verfiel
in Schwäche und förderte eine ganze Zeitlang nur Frühgeburten zu Tage.
Dies war die Zeit der Wunderkinder. Es gab deren von jeglicher Art. Die
einen musicirten vom Blatte weg, was man ihnen vorlegte, die andern sprachen
alle todten und lebenden Sprachen; wieder andere waren zu zwölf Jahren
Doctoren und noch andere zu dreizehn Jahren akademische Professoren. , Mit
einem Worte, Künste und Wissenschaften hatten nicht Werth und Reiz mehr,
wenn nicht Kinder sie übten und lehrten. Und diese Frühreife ward so epi¬
demisch, die Wunderkinder'entstanden aller Arten so zahlreich, daß es fast in
jeder Familie ein Wunderkind gab und die Menschen beteten: "O Herr, be¬
wahre uns vor Wunderkindern! .... Ich war kein Wunderkind, aber ich,
blies Flöte und war von Kindesbeinen an verliebt in meine niedliche kleine
Cousine .... Auf Bällen tanzten wir gewöhnlich nur miteinander, und bis¬
weilen geschah es denn, daß wir uns ewige Liebe schwuren und uns diesseits
uno jenseits des Grabes einander anzugehören versprachen. Die Zeit brachte
das so mit sich. Die Romantik stand in ihrer höchsten Blüte. Liebe galt
für die höchste Aufgabe des Lebens und man liebelte gewissenhaft. Nach der
Julirevolution ward es anders. Die Freiheit ward als Religion proclamirt
und Gesinnung für den vernünftigen Daseinszweck gehalten. Um jene Zeit
zählte ich vierzehn und meine Cousine zwölf Jahre; wären wir nach der Juli¬
revolution ebenso jung gewesen, wir hätten nicht uns, sondern der guten Sache
Treue geschworen und hätten uns nicht aus Zärtlichkeit, sondern aus Frei-


beachtet, bis Heine die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. „Dieser dumme Kerl,"
sagt er, „ist ein wahres Genie. Er hat mehr plastische Darstellungsgabe, als
alle neuern Poeten zusammen, die jetzt in Deutschland leben. Es ist kaum
zu begreifen, daß er sowenig Anerkennung gefunden hat. Sein Buch ist tief¬
sinnig, voll sprudelnden Witzes, wahrhaft künstlerisch, und was die Hauptsache
ist, es hat das Verdienst, mich unendlich amüsirt zu haben." — Was die
gegenwärtigen Phantasiestücke betrifft, so ist ein plastisches Talent, sowie leb¬
haftes Gefühl für das Originelle und Komische nicht zu verkennen; aber gegen
die Art des Humors, wie er seit den Zeiten der Romantik in Deutschland ge¬
trieben wird, daß man nämlich nie weiß, ob der Verfasser Ernst oder Scherz
treibt, hätten wir vieles einzuwenden. Will man sich im phantastischen Gebiet
bewegen, so muß man sich nicht auf ausführliche Schilderungen einlassen, und
will man das wirkliche Leben darstellen, so muß man auf dem Erdboden fest¬
stehen. Die Vermischung der phantastischen und der realen Welt kann nur
eine ganz ungewöhnliche Dichternatur rechtfertigen, und diese ist hier doch nicht
in so hohem Grade vorhanden. Am gelungensten scheint uns die Skizze:
Helden des dreißigjährigen Friedens. „Napoleons Kanonendonner war ver¬
hallt. In der Welt war es still geworden. Die Zeit der Helden und Männer
war vorüber, die Weltgeschichte hatte sich in Niescngeburten erschöpft, verfiel
in Schwäche und förderte eine ganze Zeitlang nur Frühgeburten zu Tage.
Dies war die Zeit der Wunderkinder. Es gab deren von jeglicher Art. Die
einen musicirten vom Blatte weg, was man ihnen vorlegte, die andern sprachen
alle todten und lebenden Sprachen; wieder andere waren zu zwölf Jahren
Doctoren und noch andere zu dreizehn Jahren akademische Professoren. , Mit
einem Worte, Künste und Wissenschaften hatten nicht Werth und Reiz mehr,
wenn nicht Kinder sie übten und lehrten. Und diese Frühreife ward so epi¬
demisch, die Wunderkinder'entstanden aller Arten so zahlreich, daß es fast in
jeder Familie ein Wunderkind gab und die Menschen beteten: „O Herr, be¬
wahre uns vor Wunderkindern! .... Ich war kein Wunderkind, aber ich,
blies Flöte und war von Kindesbeinen an verliebt in meine niedliche kleine
Cousine .... Auf Bällen tanzten wir gewöhnlich nur miteinander, und bis¬
weilen geschah es denn, daß wir uns ewige Liebe schwuren und uns diesseits
uno jenseits des Grabes einander anzugehören versprachen. Die Zeit brachte
das so mit sich. Die Romantik stand in ihrer höchsten Blüte. Liebe galt
für die höchste Aufgabe des Lebens und man liebelte gewissenhaft. Nach der
Julirevolution ward es anders. Die Freiheit ward als Religion proclamirt
und Gesinnung für den vernünftigen Daseinszweck gehalten. Um jene Zeit
zählte ich vierzehn und meine Cousine zwölf Jahre; wären wir nach der Juli¬
revolution ebenso jung gewesen, wir hätten nicht uns, sondern der guten Sache
Treue geschworen und hätten uns nicht aus Zärtlichkeit, sondern aus Frei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/412>, abgerufen am 29.12.2024.