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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Aber ein Mißgriff ist es, wenn man diese Aufgabe so versteht, als ob sich der
Dichter in den wirklichen, aus sehr verwickelten Beziehungen beruhenden Partei¬
kampf der Zeit einlassen müsse. Einmal gibt ein solcher Versuch stets ein unge¬
nügendes Resultat, denn nationalökonomische oder politische Fragen können nicht
durch das Gefühl oder die Einbildungskraft ausgemacht werden ; sie unterliegen der
Kritik des ruhigen Verstandes, und jemehr der Dichter sich bemüht, seine Ueber¬
zeugung für die Menge recht anschaulich und faßlich herauszuarbeiten ^ desto
leichter wird er die Eingebungen seiner Phantasie an die Stelle der Wirklichkeit
setzen. Sodann wird durch die steten Beziehungen auf die Tagesinteressen das
Gemüth des Dichters verstimmt und verliert seine Freiheit. Soviel Vortreff¬
liches Dickens in seiner Zeitschrift dem Volk bekannt gemacht hat, so glauben
wir doch nicht, daß der Einfluß derselben seinem dichterischen Schaffen förder¬
lich gewesen ist. Er hat sich zuviel mit den Schattenseiten der administra¬
tiven und juristischen Einrichtungen Englands beschäftigen müssen, um nicht
bei der Reizbarkeit seiner Phantasie in eine höchst bedenkliche Mißstimmung
versetzt zu werden. Nur daraus können wir die einzelnen Züge erklären, die
in seinem letzten Roman trotz der allgemeinen Liebe und Bewunderung, die dem
Dichter zutheilgeworden ist, eine gewisse Verstimmung gegen sein eignes Volk
verrathen.

Die "harten Zeiten" bemühen sich, nachzuweisen, daß die Lage der arbei¬
tenden Classen nicht von ,dem kalten, berechnenden Verstand, nicht von der na¬
tionalökonomischen Wissenschaft eine Verbesserung hoffen darf, sondern nur von
dem menschlichen Gefühl; daß nichts für den Fortschritt so nachtheilig sein
kann als das allgemein geglaubte System des Egoismus, welches Kraft der
Kraft entgegenstellt und den Schwachen mitleidslos den zermalmenden Rädern
des Geschicks überläßt. An sich ist dieses Vorhaben sehr lobenswerth. Zwar
ist jener Egoismus im höchsten Grade berechtigt, denn ohne ihn würde die
Menschheit in ein weichliches, zweckloses Vegetiren versinken; auch ist die Wis¬
senschaft der Nationalökonomie nicht so inhaltlos, wie es dem unruhigen Dichter
erscheinen mag. Denn kein Haushalt wird ohne Rechnung geführt, und wenn
man rechnen will, so muß man die Zahlen verstehen. Ja wenn sie weiter
keinen andern Zweck hätte, so wäre schon ein unermeßlicher Gewinn, daß durch
sie die socialistischen Träumereien abgewehrt werden. Aber die Welt würde
allerdings sehr unglücklich sein, wenn die Arithmetik sich zum alleinigen Herrn
über das Leben machte. Sie kann die Regel und das Gesetz feststellen, aber
jeder individuelle Fall soll das Gefühl beschäftigen; und wenn es wirklich ein¬
mal gelingen sollte, was aber glücklicherweise dem Begriff des menschlichen
Geistes widerspricht, das Gefühl ganz von den Bestimmungen des Willens
auszuschließen, so würden die Menschen unter die Thiere hinabsinken.

Allein die Aufgabe konnte nur dann würdig durchgeführt werden, wenn


Aber ein Mißgriff ist es, wenn man diese Aufgabe so versteht, als ob sich der
Dichter in den wirklichen, aus sehr verwickelten Beziehungen beruhenden Partei¬
kampf der Zeit einlassen müsse. Einmal gibt ein solcher Versuch stets ein unge¬
nügendes Resultat, denn nationalökonomische oder politische Fragen können nicht
durch das Gefühl oder die Einbildungskraft ausgemacht werden ; sie unterliegen der
Kritik des ruhigen Verstandes, und jemehr der Dichter sich bemüht, seine Ueber¬
zeugung für die Menge recht anschaulich und faßlich herauszuarbeiten ^ desto
leichter wird er die Eingebungen seiner Phantasie an die Stelle der Wirklichkeit
setzen. Sodann wird durch die steten Beziehungen auf die Tagesinteressen das
Gemüth des Dichters verstimmt und verliert seine Freiheit. Soviel Vortreff¬
liches Dickens in seiner Zeitschrift dem Volk bekannt gemacht hat, so glauben
wir doch nicht, daß der Einfluß derselben seinem dichterischen Schaffen förder¬
lich gewesen ist. Er hat sich zuviel mit den Schattenseiten der administra¬
tiven und juristischen Einrichtungen Englands beschäftigen müssen, um nicht
bei der Reizbarkeit seiner Phantasie in eine höchst bedenkliche Mißstimmung
versetzt zu werden. Nur daraus können wir die einzelnen Züge erklären, die
in seinem letzten Roman trotz der allgemeinen Liebe und Bewunderung, die dem
Dichter zutheilgeworden ist, eine gewisse Verstimmung gegen sein eignes Volk
verrathen.

Die „harten Zeiten" bemühen sich, nachzuweisen, daß die Lage der arbei¬
tenden Classen nicht von ,dem kalten, berechnenden Verstand, nicht von der na¬
tionalökonomischen Wissenschaft eine Verbesserung hoffen darf, sondern nur von
dem menschlichen Gefühl; daß nichts für den Fortschritt so nachtheilig sein
kann als das allgemein geglaubte System des Egoismus, welches Kraft der
Kraft entgegenstellt und den Schwachen mitleidslos den zermalmenden Rädern
des Geschicks überläßt. An sich ist dieses Vorhaben sehr lobenswerth. Zwar
ist jener Egoismus im höchsten Grade berechtigt, denn ohne ihn würde die
Menschheit in ein weichliches, zweckloses Vegetiren versinken; auch ist die Wis¬
senschaft der Nationalökonomie nicht so inhaltlos, wie es dem unruhigen Dichter
erscheinen mag. Denn kein Haushalt wird ohne Rechnung geführt, und wenn
man rechnen will, so muß man die Zahlen verstehen. Ja wenn sie weiter
keinen andern Zweck hätte, so wäre schon ein unermeßlicher Gewinn, daß durch
sie die socialistischen Träumereien abgewehrt werden. Aber die Welt würde
allerdings sehr unglücklich sein, wenn die Arithmetik sich zum alleinigen Herrn
über das Leben machte. Sie kann die Regel und das Gesetz feststellen, aber
jeder individuelle Fall soll das Gefühl beschäftigen; und wenn es wirklich ein¬
mal gelingen sollte, was aber glücklicherweise dem Begriff des menschlichen
Geistes widerspricht, das Gefühl ganz von den Bestimmungen des Willens
auszuschließen, so würden die Menschen unter die Thiere hinabsinken.

Allein die Aufgabe konnte nur dann würdig durchgeführt werden, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/410>, abgerufen am 29.12.2024.