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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Christlich? Hier ist Katholisch, da Lutherisch, dort Ncformirt. Sie haben recht, Main, aus
Schlesien; die Offenbarung des Gottmenschen ist zu einem babylonischen Thurm geworden, an
dem sich die Völker mißverstehen "ut entzweien. Dem Gott z" Liebe, der Mensch geworden
ist, werfen sie die Nächstenliebe von sich und schmähen die Welt. Was bleibt uns übrig, uns
Ungläubigen, als eine neue Menschwerdung für jeden einzelnen, und daß wir uns den Stoff
und den Zuschnitt gefallen lassen, in den sich eine Gottheit gekleidet hat!" --

Morton Varney. Ein Roman vonAline von Schlichtkrull. Kerim.
Stubcnrcnich. --

Bereits bei dem ersten Roman dieser jungen Dame haben wir darauf auf¬
merksam gemacht, daß wir es mit einem nicht gemeinen Talent zu thun haben, daß
wir aber eine höchst bedenkliche Richtung dieses Talents beklagen müssen.' Auch
in der gegenwärtigen Schrift finden sich Züge einer echt poetischen Anschauung;
die Charaktere sind, wenn man auch zahlreiche Fehler in ihnen entdecken wird, be¬
stimmt gedacht und angeschaut; die Erzählung, wenn auch durch zu große Sprünge
unterbrochen, ist verständlich und zusammenhängend; die Empfindung ist stark und
wenn sie auch zuweilen ins Unnatürliche, überspringt, doch niemals aus der Luft
gegriffen und das Urtheil zuweilen von einer ungewöhnlichen Reife. Was wir
bei dem Roman vermissen,^ ist die Jugendlichkeit. Die Personen, die darin
auftreten, haben meistens etwas Gebrochenes, und der Skepticismus, der sich
in der ganzen Anlage der Handlung ausspricht, und der doch unmöglich aus
wirklichen Lebenserfahrungen geschöpft sein kann, verräth eine seltsame Abirrung
der Phantasie. Manche Aufgaben, denen sonst nur der reife Mann gerecht
wird, sind hier einer jungen Dame gelungen, z. B. die Zeichnung eines ab¬
gefeimten Schurken, nicht eines Theaterschurken, der durch teuflische Grimassen
die Kinder zum Entsetzen bringt, sondern eines kalten egoistischen Weltmannes,
dessen unerbittliche Energie durch eine unruhige Geschäftigkeit paralysirt wird
und dessen feinste und kühnste Entwürfe scheitern, weil sein Ehrgeiz inhaltlos
ist und daher seine Zwecke aus der Imagination genommen sind. Auch in
dem Conflict zwischen dem angebornen edlen Sinn und der Abstraction des
weltlichen Zweckes, wie er uns in dem Charakter des Helden dargestellt wird,
finden wir manche überraschende Perspektiven; und wir können nur wünschen,
daß der Verfasserin gelingen möge, für ihr eignes Streben und folglich für ihr
eignes Dichten einen Haltpunkt zu finden, aus dem sich ihr dann auch die
Well in weniger trüben Farben darstellen wird. -- Noch auf einen Neben¬
umstand müssen wir auch dies Mal hindeuten: der Roman sollte die Politik
so sehr als möglich vermeiden. Zwar haben es in England mehre Novellisten
versucht, die politische Intrigue novellistisch zu behandeln, allein es ist ihnen
fast immer mißlungen; denn wenn man bei derselben von den bestimmten un¬
mittelbaren Zwecken absieht, so ist sie einem stets langweilig und am wenigsten
geeignet, ein Urtheil über den wirklichen politischen Inhalt möglich zu machen.


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Christlich? Hier ist Katholisch, da Lutherisch, dort Ncformirt. Sie haben recht, Main, aus
Schlesien; die Offenbarung des Gottmenschen ist zu einem babylonischen Thurm geworden, an
dem sich die Völker mißverstehen »ut entzweien. Dem Gott z» Liebe, der Mensch geworden
ist, werfen sie die Nächstenliebe von sich und schmähen die Welt. Was bleibt uns übrig, uns
Ungläubigen, als eine neue Menschwerdung für jeden einzelnen, und daß wir uns den Stoff
und den Zuschnitt gefallen lassen, in den sich eine Gottheit gekleidet hat!" —

Morton Varney. Ein Roman vonAline von Schlichtkrull. Kerim.
Stubcnrcnich. —

Bereits bei dem ersten Roman dieser jungen Dame haben wir darauf auf¬
merksam gemacht, daß wir es mit einem nicht gemeinen Talent zu thun haben, daß
wir aber eine höchst bedenkliche Richtung dieses Talents beklagen müssen.' Auch
in der gegenwärtigen Schrift finden sich Züge einer echt poetischen Anschauung;
die Charaktere sind, wenn man auch zahlreiche Fehler in ihnen entdecken wird, be¬
stimmt gedacht und angeschaut; die Erzählung, wenn auch durch zu große Sprünge
unterbrochen, ist verständlich und zusammenhängend; die Empfindung ist stark und
wenn sie auch zuweilen ins Unnatürliche, überspringt, doch niemals aus der Luft
gegriffen und das Urtheil zuweilen von einer ungewöhnlichen Reife. Was wir
bei dem Roman vermissen,^ ist die Jugendlichkeit. Die Personen, die darin
auftreten, haben meistens etwas Gebrochenes, und der Skepticismus, der sich
in der ganzen Anlage der Handlung ausspricht, und der doch unmöglich aus
wirklichen Lebenserfahrungen geschöpft sein kann, verräth eine seltsame Abirrung
der Phantasie. Manche Aufgaben, denen sonst nur der reife Mann gerecht
wird, sind hier einer jungen Dame gelungen, z. B. die Zeichnung eines ab¬
gefeimten Schurken, nicht eines Theaterschurken, der durch teuflische Grimassen
die Kinder zum Entsetzen bringt, sondern eines kalten egoistischen Weltmannes,
dessen unerbittliche Energie durch eine unruhige Geschäftigkeit paralysirt wird
und dessen feinste und kühnste Entwürfe scheitern, weil sein Ehrgeiz inhaltlos
ist und daher seine Zwecke aus der Imagination genommen sind. Auch in
dem Conflict zwischen dem angebornen edlen Sinn und der Abstraction des
weltlichen Zweckes, wie er uns in dem Charakter des Helden dargestellt wird,
finden wir manche überraschende Perspektiven; und wir können nur wünschen,
daß der Verfasserin gelingen möge, für ihr eignes Streben und folglich für ihr
eignes Dichten einen Haltpunkt zu finden, aus dem sich ihr dann auch die
Well in weniger trüben Farben darstellen wird. — Noch auf einen Neben¬
umstand müssen wir auch dies Mal hindeuten: der Roman sollte die Politik
so sehr als möglich vermeiden. Zwar haben es in England mehre Novellisten
versucht, die politische Intrigue novellistisch zu behandeln, allein es ist ihnen
fast immer mißlungen; denn wenn man bei derselben von den bestimmten un¬
mittelbaren Zwecken absieht, so ist sie einem stets langweilig und am wenigsten
geeignet, ein Urtheil über den wirklichen politischen Inhalt möglich zu machen.


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[0033] Christlich? Hier ist Katholisch, da Lutherisch, dort Ncformirt. Sie haben recht, Main, aus Schlesien; die Offenbarung des Gottmenschen ist zu einem babylonischen Thurm geworden, an dem sich die Völker mißverstehen »ut entzweien. Dem Gott z» Liebe, der Mensch geworden ist, werfen sie die Nächstenliebe von sich und schmähen die Welt. Was bleibt uns übrig, uns Ungläubigen, als eine neue Menschwerdung für jeden einzelnen, und daß wir uns den Stoff und den Zuschnitt gefallen lassen, in den sich eine Gottheit gekleidet hat!" — Morton Varney. Ein Roman vonAline von Schlichtkrull. Kerim. Stubcnrcnich. — Bereits bei dem ersten Roman dieser jungen Dame haben wir darauf auf¬ merksam gemacht, daß wir es mit einem nicht gemeinen Talent zu thun haben, daß wir aber eine höchst bedenkliche Richtung dieses Talents beklagen müssen.' Auch in der gegenwärtigen Schrift finden sich Züge einer echt poetischen Anschauung; die Charaktere sind, wenn man auch zahlreiche Fehler in ihnen entdecken wird, be¬ stimmt gedacht und angeschaut; die Erzählung, wenn auch durch zu große Sprünge unterbrochen, ist verständlich und zusammenhängend; die Empfindung ist stark und wenn sie auch zuweilen ins Unnatürliche, überspringt, doch niemals aus der Luft gegriffen und das Urtheil zuweilen von einer ungewöhnlichen Reife. Was wir bei dem Roman vermissen,^ ist die Jugendlichkeit. Die Personen, die darin auftreten, haben meistens etwas Gebrochenes, und der Skepticismus, der sich in der ganzen Anlage der Handlung ausspricht, und der doch unmöglich aus wirklichen Lebenserfahrungen geschöpft sein kann, verräth eine seltsame Abirrung der Phantasie. Manche Aufgaben, denen sonst nur der reife Mann gerecht wird, sind hier einer jungen Dame gelungen, z. B. die Zeichnung eines ab¬ gefeimten Schurken, nicht eines Theaterschurken, der durch teuflische Grimassen die Kinder zum Entsetzen bringt, sondern eines kalten egoistischen Weltmannes, dessen unerbittliche Energie durch eine unruhige Geschäftigkeit paralysirt wird und dessen feinste und kühnste Entwürfe scheitern, weil sein Ehrgeiz inhaltlos ist und daher seine Zwecke aus der Imagination genommen sind. Auch in dem Conflict zwischen dem angebornen edlen Sinn und der Abstraction des weltlichen Zweckes, wie er uns in dem Charakter des Helden dargestellt wird, finden wir manche überraschende Perspektiven; und wir können nur wünschen, daß der Verfasserin gelingen möge, für ihr eignes Streben und folglich für ihr eignes Dichten einen Haltpunkt zu finden, aus dem sich ihr dann auch die Well in weniger trüben Farben darstellen wird. — Noch auf einen Neben¬ umstand müssen wir auch dies Mal hindeuten: der Roman sollte die Politik so sehr als möglich vermeiden. Zwar haben es in England mehre Novellisten versucht, die politische Intrigue novellistisch zu behandeln, allein es ist ihnen fast immer mißlungen; denn wenn man bei derselben von den bestimmten un¬ mittelbaren Zwecken absieht, so ist sie einem stets langweilig und am wenigsten geeignet, ein Urtheil über den wirklichen politischen Inhalt möglich zu machen. Grenzboten. IV. !8si. , , 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/33>, abgerufen am 22.07.2024.