Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Thierleben der Alpenwelt.
Von Friedrich v. Tschudi.
(Leipzig, I. I. Weber, 18S3.)

An übertriebener Bescheidenheit leiden unsere modernen Büchertitel nur selten.
Wer daran schuld ist, daß sie so häufig mehr versprechen, als der Buchinhalt
gewährt? Publicum, Buchhändler oder Schriftsteller? Wir lassens unentschieden
und machen der vielbeschäftigten Welt auch keinen Vorwurf daraus, wenn sie zum
eigenen Schaden dem Volltönenden ihre Aufmerksamkeit fast mit Ausschließlichkeit
zuwendet. Aber vergessen sollte mans doch nicht, daß grade jene Werke, welche
die Naturwissenschaften nicht nur durch die Fülle ihrer Belehrungen, sondern eben
so sehr dnrch die vollendete Schönheit ihrer Darstellungsform in das Publicum
recht eigentlich einführten, mit ganz einfachen Titeln auftraten. Wer denkt nicht
an Humboldts unvergleichliche "Ansichten der Natur" oder an Schleiden's "Leben
der Pflanze"? Wer denkt nicht daran, daß wir erst im Einleben in diese und
ähnliche Schriften so recht und voll erkannten, daß wir beim Anblicke des Titels
nicht der ganzen Vollbedentnng und deu Beziehungen der einfachen Begriffsbe-
zeichnung nachdachten? Und wie wir's am Ende mit etwas stiller Beschämung
bemerkten? Marktschreiende Literaturhandwerkerei hat uns verwöhnt; nun müssen
wir uns wieder daran gewöhnen, daß wir einen als Titelbezeichuuug gewählten
Begriff uicht als Begrenzung eines engen Betrachtungsfeldes ansehen. Wir haben uur
oberflächlich gelesen und die Wortbedeutungen nicht vollständig ausgedacht. Könnt
ihr vom wirklichen Denker verlangen, daß er Euch seine Bücher mit Haupt- und
Nebentitelu biete, wie schlechte Thcaterdirectoren ihre Novitäten, wenn sie keinen
Antoritätsklang haben? Dennoch bedarfs bei den heutigen Zuständen unserer
Literatur und eines großen Theiles der Kritik immerhin eines Entschlusses, um
ein literarisches Erzeugniß unter dem einfachsten, wenn auch thatsächlich umfas¬
sendsten und bezeichnendsten Namen hinaussenden in die Welt. Friedrich v.
Tschudi hats gewagt. Thierleben der Alpenwelt nennt er sein Buch, darauf
vertrauend, daß des Wortes Vollbedentnng seinen mächtigen Reiz übe -- "die
Alpenwelt mit all ihren Schöpfungen und Wundern" hätte handwerkernder Buch¬
macher" vielleicht kaum volltöuig genug gelautet. Eine unermeßliche Fülle von
Erscheinungen, eine wirkliche, volle, organische Natur steht vor uns, als deren
ebenso vollendete wie den Schöpfnngskreis der Alpenwelt nothwendig vollendende
Blüte und Frucht das eigenthümliche Thierleben ihrer Kreise aufwächst. Das
Werk ist eins der reichsten und schönsten Naturgemälde unserer modernen Literatur.
Zum besondern Reiz und Vorzug rechnen wirs ihm aber an, daß es sich von
doctrinärer Form vollkommen fern hält. Wer mit einem tüchtigen Kenner des
Alpenlebens aus den Thälern emporklomm bis zu den Breiten des sogenaunten


Grenzboten, III. ,,8ö3. 18
Das Thierleben der Alpenwelt.
Von Friedrich v. Tschudi.
(Leipzig, I. I. Weber, 18S3.)

An übertriebener Bescheidenheit leiden unsere modernen Büchertitel nur selten.
Wer daran schuld ist, daß sie so häufig mehr versprechen, als der Buchinhalt
gewährt? Publicum, Buchhändler oder Schriftsteller? Wir lassens unentschieden
und machen der vielbeschäftigten Welt auch keinen Vorwurf daraus, wenn sie zum
eigenen Schaden dem Volltönenden ihre Aufmerksamkeit fast mit Ausschließlichkeit
zuwendet. Aber vergessen sollte mans doch nicht, daß grade jene Werke, welche
die Naturwissenschaften nicht nur durch die Fülle ihrer Belehrungen, sondern eben
so sehr dnrch die vollendete Schönheit ihrer Darstellungsform in das Publicum
recht eigentlich einführten, mit ganz einfachen Titeln auftraten. Wer denkt nicht
an Humboldts unvergleichliche „Ansichten der Natur" oder an Schleiden's „Leben
der Pflanze"? Wer denkt nicht daran, daß wir erst im Einleben in diese und
ähnliche Schriften so recht und voll erkannten, daß wir beim Anblicke des Titels
nicht der ganzen Vollbedentnng und deu Beziehungen der einfachen Begriffsbe-
zeichnung nachdachten? Und wie wir's am Ende mit etwas stiller Beschämung
bemerkten? Marktschreiende Literaturhandwerkerei hat uns verwöhnt; nun müssen
wir uns wieder daran gewöhnen, daß wir einen als Titelbezeichuuug gewählten
Begriff uicht als Begrenzung eines engen Betrachtungsfeldes ansehen. Wir haben uur
oberflächlich gelesen und die Wortbedeutungen nicht vollständig ausgedacht. Könnt
ihr vom wirklichen Denker verlangen, daß er Euch seine Bücher mit Haupt- und
Nebentitelu biete, wie schlechte Thcaterdirectoren ihre Novitäten, wenn sie keinen
Antoritätsklang haben? Dennoch bedarfs bei den heutigen Zuständen unserer
Literatur und eines großen Theiles der Kritik immerhin eines Entschlusses, um
ein literarisches Erzeugniß unter dem einfachsten, wenn auch thatsächlich umfas¬
sendsten und bezeichnendsten Namen hinaussenden in die Welt. Friedrich v.
Tschudi hats gewagt. Thierleben der Alpenwelt nennt er sein Buch, darauf
vertrauend, daß des Wortes Vollbedentnng seinen mächtigen Reiz übe — „die
Alpenwelt mit all ihren Schöpfungen und Wundern" hätte handwerkernder Buch¬
macher« vielleicht kaum volltöuig genug gelautet. Eine unermeßliche Fülle von
Erscheinungen, eine wirkliche, volle, organische Natur steht vor uns, als deren
ebenso vollendete wie den Schöpfnngskreis der Alpenwelt nothwendig vollendende
Blüte und Frucht das eigenthümliche Thierleben ihrer Kreise aufwächst. Das
Werk ist eins der reichsten und schönsten Naturgemälde unserer modernen Literatur.
Zum besondern Reiz und Vorzug rechnen wirs ihm aber an, daß es sich von
doctrinärer Form vollkommen fern hält. Wer mit einem tüchtigen Kenner des
Alpenlebens aus den Thälern emporklomm bis zu den Breiten des sogenaunten


Grenzboten, III. ,,8ö3. 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96320"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Das Thierleben der Alpenwelt.<lb/><note type="byline"> Von Friedrich v. Tschudi.</note><lb/>
(Leipzig, I. I. Weber, 18S3.)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_464" next="#ID_465"> An übertriebener Bescheidenheit leiden unsere modernen Büchertitel nur selten.<lb/>
Wer daran schuld ist, daß sie so häufig mehr versprechen, als der Buchinhalt<lb/>
gewährt? Publicum, Buchhändler oder Schriftsteller? Wir lassens unentschieden<lb/>
und machen der vielbeschäftigten Welt auch keinen Vorwurf daraus, wenn sie zum<lb/>
eigenen Schaden dem Volltönenden ihre Aufmerksamkeit fast mit Ausschließlichkeit<lb/>
zuwendet. Aber vergessen sollte mans doch nicht, daß grade jene Werke, welche<lb/>
die Naturwissenschaften nicht nur durch die Fülle ihrer Belehrungen, sondern eben<lb/>
so sehr dnrch die vollendete Schönheit ihrer Darstellungsform in das Publicum<lb/>
recht eigentlich einführten, mit ganz einfachen Titeln auftraten. Wer denkt nicht<lb/>
an Humboldts unvergleichliche &#x201E;Ansichten der Natur" oder an Schleiden's &#x201E;Leben<lb/>
der Pflanze"? Wer denkt nicht daran, daß wir erst im Einleben in diese und<lb/>
ähnliche Schriften so recht und voll erkannten, daß wir beim Anblicke des Titels<lb/>
nicht der ganzen Vollbedentnng und deu Beziehungen der einfachen Begriffsbe-<lb/>
zeichnung nachdachten? Und wie wir's am Ende mit etwas stiller Beschämung<lb/>
bemerkten? Marktschreiende Literaturhandwerkerei hat uns verwöhnt; nun müssen<lb/>
wir uns wieder daran gewöhnen, daß wir einen als Titelbezeichuuug gewählten<lb/>
Begriff uicht als Begrenzung eines engen Betrachtungsfeldes ansehen. Wir haben uur<lb/>
oberflächlich gelesen und die Wortbedeutungen nicht vollständig ausgedacht. Könnt<lb/>
ihr vom wirklichen Denker verlangen, daß er Euch seine Bücher mit Haupt- und<lb/>
Nebentitelu biete, wie schlechte Thcaterdirectoren ihre Novitäten, wenn sie keinen<lb/>
Antoritätsklang haben? Dennoch bedarfs bei den heutigen Zuständen unserer<lb/>
Literatur und eines großen Theiles der Kritik immerhin eines Entschlusses, um<lb/>
ein literarisches Erzeugniß unter dem einfachsten, wenn auch thatsächlich umfas¬<lb/>
sendsten und bezeichnendsten Namen hinaussenden in die Welt. Friedrich v.<lb/>
Tschudi hats gewagt. Thierleben der Alpenwelt nennt er sein Buch, darauf<lb/>
vertrauend, daß des Wortes Vollbedentnng seinen mächtigen Reiz übe &#x2014; &#x201E;die<lb/>
Alpenwelt mit all ihren Schöpfungen und Wundern" hätte handwerkernder Buch¬<lb/>
macher« vielleicht kaum volltöuig genug gelautet. Eine unermeßliche Fülle von<lb/>
Erscheinungen, eine wirkliche, volle, organische Natur steht vor uns, als deren<lb/>
ebenso vollendete wie den Schöpfnngskreis der Alpenwelt nothwendig vollendende<lb/>
Blüte und Frucht das eigenthümliche Thierleben ihrer Kreise aufwächst. Das<lb/>
Werk ist eins der reichsten und schönsten Naturgemälde unserer modernen Literatur.<lb/>
Zum besondern Reiz und Vorzug rechnen wirs ihm aber an, daß es sich von<lb/>
doctrinärer Form vollkommen fern hält. Wer mit einem tüchtigen Kenner des<lb/>
Alpenlebens aus den Thälern emporklomm bis zu den Breiten des sogenaunten</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten, III. ,,8ö3. 18</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0145] Das Thierleben der Alpenwelt. Von Friedrich v. Tschudi. (Leipzig, I. I. Weber, 18S3.) An übertriebener Bescheidenheit leiden unsere modernen Büchertitel nur selten. Wer daran schuld ist, daß sie so häufig mehr versprechen, als der Buchinhalt gewährt? Publicum, Buchhändler oder Schriftsteller? Wir lassens unentschieden und machen der vielbeschäftigten Welt auch keinen Vorwurf daraus, wenn sie zum eigenen Schaden dem Volltönenden ihre Aufmerksamkeit fast mit Ausschließlichkeit zuwendet. Aber vergessen sollte mans doch nicht, daß grade jene Werke, welche die Naturwissenschaften nicht nur durch die Fülle ihrer Belehrungen, sondern eben so sehr dnrch die vollendete Schönheit ihrer Darstellungsform in das Publicum recht eigentlich einführten, mit ganz einfachen Titeln auftraten. Wer denkt nicht an Humboldts unvergleichliche „Ansichten der Natur" oder an Schleiden's „Leben der Pflanze"? Wer denkt nicht daran, daß wir erst im Einleben in diese und ähnliche Schriften so recht und voll erkannten, daß wir beim Anblicke des Titels nicht der ganzen Vollbedentnng und deu Beziehungen der einfachen Begriffsbe- zeichnung nachdachten? Und wie wir's am Ende mit etwas stiller Beschämung bemerkten? Marktschreiende Literaturhandwerkerei hat uns verwöhnt; nun müssen wir uns wieder daran gewöhnen, daß wir einen als Titelbezeichuuug gewählten Begriff uicht als Begrenzung eines engen Betrachtungsfeldes ansehen. Wir haben uur oberflächlich gelesen und die Wortbedeutungen nicht vollständig ausgedacht. Könnt ihr vom wirklichen Denker verlangen, daß er Euch seine Bücher mit Haupt- und Nebentitelu biete, wie schlechte Thcaterdirectoren ihre Novitäten, wenn sie keinen Antoritätsklang haben? Dennoch bedarfs bei den heutigen Zuständen unserer Literatur und eines großen Theiles der Kritik immerhin eines Entschlusses, um ein literarisches Erzeugniß unter dem einfachsten, wenn auch thatsächlich umfas¬ sendsten und bezeichnendsten Namen hinaussenden in die Welt. Friedrich v. Tschudi hats gewagt. Thierleben der Alpenwelt nennt er sein Buch, darauf vertrauend, daß des Wortes Vollbedentnng seinen mächtigen Reiz übe — „die Alpenwelt mit all ihren Schöpfungen und Wundern" hätte handwerkernder Buch¬ macher« vielleicht kaum volltöuig genug gelautet. Eine unermeßliche Fülle von Erscheinungen, eine wirkliche, volle, organische Natur steht vor uns, als deren ebenso vollendete wie den Schöpfnngskreis der Alpenwelt nothwendig vollendende Blüte und Frucht das eigenthümliche Thierleben ihrer Kreise aufwächst. Das Werk ist eins der reichsten und schönsten Naturgemälde unserer modernen Literatur. Zum besondern Reiz und Vorzug rechnen wirs ihm aber an, daß es sich von doctrinärer Form vollkommen fern hält. Wer mit einem tüchtigen Kenner des Alpenlebens aus den Thälern emporklomm bis zu den Breiten des sogenaunten Grenzboten, III. ,,8ö3. 18

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/145
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/145>, abgerufen am 29.06.2024.