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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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ben, ist wol das mühseligste Menschenwerk. Herumsnchcnd, hinhvrchend, ausspähend
bei jeder Gelegenheit und aller Orten können die Berichterstatter meistens kaum
noch den berühmte" rothen Faden Goethe's fassen, der doch solchen Mittheilungen
einzig und allein jenen Reiz und jenes Interesse zu verleihen vermochte, welches
der Leser suchen muß, um in den Tagesereignissen nicht blos isolirte Vorkomm¬
nisse, sondern die Schatten und Lichter eines Lebens zu finden. Unsre Gene¬
ration hat das Leben auf die großen Städte concentrirt; machtlos verpuffen
mannichfache Versuche zu neuen Dceentralisationeu, welche allerdings das Herrschen
und Beherrschen leichter machen, als das Regieren ist. Doch schon vom heidnischen
Alterthume erbten wir den Wahrspruch, verflossene Tage fordern selbst Götter
vergebens zurück. Die großen Städte sind Nervenknoten des LcbeusorgauismuS,
und die politischen Landeögrcnzcn bedeuten in der modernen Lebensfluth nicht mehr,
als etwa der versenkte Felsblock in einen Flußbett. Die darüber hiustreichende
Welle hebt sich etwas höher als ihre Genossen, gewinnt aber dadurch nnr ver¬
stärkten Fall und beschleunigte Naschheit ihres Laufes nach dem Ziele. Dabei
und darüber verloren die Städte großentheils jenes absonderliche Wesen, welches
man speciell als altstädtisch und bürgerlich bezeichnete. Boruirte Sentimen¬
talität in der Publicistik, welche überall verwelkendes und sich entfärbendes Leben
sieht, spricht nun von einem Absterben der Eigenthümlichkeiten. Sie erinnert
an den Goethe'sehen General im zweiten Theile des Faust, der, vor dem Faße
liegend, jammert:


Dieweil mein Fäfilein trübe rinnt,
Die Welt geht auf die Neige. >

Wir sind kein greises Geschlecht; denn das Greisenalter schasst keine neue
Lebensbahnen, es lebt in die Vergangenheit zurück und kennt nach sich nnr den
Tod. Epigonen sind wir dagegen im vollsten Maße. Immermann hat mit
diesem einzigen Worte das Zeitalter so vollkommen richtig charakterisirt, wie vor
und nach ihm kein Denker in langen Abhandlungen. Die Ueberkommcnschaften
der Vergangenheit lasten ans unsren Schultern massenhaft und ungestchtet. Das
Abgethane vom fürder Nothwendigen energisch abzuschneiden, sehlt wol nicht die
Kraft, aber der rechte Entschluß. Denn die neuen Lcbensgestaltuugeu häufen
sich gleichermaßen massenhaft, eben so nngesichtet ans die vorhandenen Lasten des
Epigouenthums. Der Hader geht darum, was feste Wurzel im Alten geschlagen,
was neuer Lebenstrieb des Ererbten, was wirklich abgelebt und was zu neuem
Leben berechtigt sei. Im Bedürfuiß "ach Reform sehlt der klare Blick, die kalte
Entschlossenheit zur Revision. Beides kommt sicherlich, aber langsamer, unschein¬
barer als unter günstigeren Verhältnissen. Erst wenn das Abgethaue Staub


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ben, ist wol das mühseligste Menschenwerk. Herumsnchcnd, hinhvrchend, ausspähend
bei jeder Gelegenheit und aller Orten können die Berichterstatter meistens kaum
noch den berühmte» rothen Faden Goethe's fassen, der doch solchen Mittheilungen
einzig und allein jenen Reiz und jenes Interesse zu verleihen vermochte, welches
der Leser suchen muß, um in den Tagesereignissen nicht blos isolirte Vorkomm¬
nisse, sondern die Schatten und Lichter eines Lebens zu finden. Unsre Gene¬
ration hat das Leben auf die großen Städte concentrirt; machtlos verpuffen
mannichfache Versuche zu neuen Dceentralisationeu, welche allerdings das Herrschen
und Beherrschen leichter machen, als das Regieren ist. Doch schon vom heidnischen
Alterthume erbten wir den Wahrspruch, verflossene Tage fordern selbst Götter
vergebens zurück. Die großen Städte sind Nervenknoten des LcbeusorgauismuS,
und die politischen Landeögrcnzcn bedeuten in der modernen Lebensfluth nicht mehr,
als etwa der versenkte Felsblock in einen Flußbett. Die darüber hiustreichende
Welle hebt sich etwas höher als ihre Genossen, gewinnt aber dadurch nnr ver¬
stärkten Fall und beschleunigte Naschheit ihres Laufes nach dem Ziele. Dabei
und darüber verloren die Städte großentheils jenes absonderliche Wesen, welches
man speciell als altstädtisch und bürgerlich bezeichnete. Boruirte Sentimen¬
talität in der Publicistik, welche überall verwelkendes und sich entfärbendes Leben
sieht, spricht nun von einem Absterben der Eigenthümlichkeiten. Sie erinnert
an den Goethe'sehen General im zweiten Theile des Faust, der, vor dem Faße
liegend, jammert:


Dieweil mein Fäfilein trübe rinnt,
Die Welt geht auf die Neige. >

Wir sind kein greises Geschlecht; denn das Greisenalter schasst keine neue
Lebensbahnen, es lebt in die Vergangenheit zurück und kennt nach sich nnr den
Tod. Epigonen sind wir dagegen im vollsten Maße. Immermann hat mit
diesem einzigen Worte das Zeitalter so vollkommen richtig charakterisirt, wie vor
und nach ihm kein Denker in langen Abhandlungen. Die Ueberkommcnschaften
der Vergangenheit lasten ans unsren Schultern massenhaft und ungestchtet. Das
Abgethane vom fürder Nothwendigen energisch abzuschneiden, sehlt wol nicht die
Kraft, aber der rechte Entschluß. Denn die neuen Lcbensgestaltuugeu häufen
sich gleichermaßen massenhaft, eben so nngesichtet ans die vorhandenen Lasten des
Epigouenthums. Der Hader geht darum, was feste Wurzel im Alten geschlagen,
was neuer Lebenstrieb des Ererbten, was wirklich abgelebt und was zu neuem
Leben berechtigt sei. Im Bedürfuiß «ach Reform sehlt der klare Blick, die kalte
Entschlossenheit zur Revision. Beides kommt sicherlich, aber langsamer, unschein¬
barer als unter günstigeren Verhältnissen. Erst wenn das Abgethaue Staub


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[0156] W o es e u v e r i es t. ^ Nenigkeitscorrespondenzen zu schrei¬ ben, ist wol das mühseligste Menschenwerk. Herumsnchcnd, hinhvrchend, ausspähend bei jeder Gelegenheit und aller Orten können die Berichterstatter meistens kaum noch den berühmte» rothen Faden Goethe's fassen, der doch solchen Mittheilungen einzig und allein jenen Reiz und jenes Interesse zu verleihen vermochte, welches der Leser suchen muß, um in den Tagesereignissen nicht blos isolirte Vorkomm¬ nisse, sondern die Schatten und Lichter eines Lebens zu finden. Unsre Gene¬ ration hat das Leben auf die großen Städte concentrirt; machtlos verpuffen mannichfache Versuche zu neuen Dceentralisationeu, welche allerdings das Herrschen und Beherrschen leichter machen, als das Regieren ist. Doch schon vom heidnischen Alterthume erbten wir den Wahrspruch, verflossene Tage fordern selbst Götter vergebens zurück. Die großen Städte sind Nervenknoten des LcbeusorgauismuS, und die politischen Landeögrcnzcn bedeuten in der modernen Lebensfluth nicht mehr, als etwa der versenkte Felsblock in einen Flußbett. Die darüber hiustreichende Welle hebt sich etwas höher als ihre Genossen, gewinnt aber dadurch nnr ver¬ stärkten Fall und beschleunigte Naschheit ihres Laufes nach dem Ziele. Dabei und darüber verloren die Städte großentheils jenes absonderliche Wesen, welches man speciell als altstädtisch und bürgerlich bezeichnete. Boruirte Sentimen¬ talität in der Publicistik, welche überall verwelkendes und sich entfärbendes Leben sieht, spricht nun von einem Absterben der Eigenthümlichkeiten. Sie erinnert an den Goethe'sehen General im zweiten Theile des Faust, der, vor dem Faße liegend, jammert: Dieweil mein Fäfilein trübe rinnt, Die Welt geht auf die Neige. > Wir sind kein greises Geschlecht; denn das Greisenalter schasst keine neue Lebensbahnen, es lebt in die Vergangenheit zurück und kennt nach sich nnr den Tod. Epigonen sind wir dagegen im vollsten Maße. Immermann hat mit diesem einzigen Worte das Zeitalter so vollkommen richtig charakterisirt, wie vor und nach ihm kein Denker in langen Abhandlungen. Die Ueberkommcnschaften der Vergangenheit lasten ans unsren Schultern massenhaft und ungestchtet. Das Abgethane vom fürder Nothwendigen energisch abzuschneiden, sehlt wol nicht die Kraft, aber der rechte Entschluß. Denn die neuen Lcbensgestaltuugeu häufen sich gleichermaßen massenhaft, eben so nngesichtet ans die vorhandenen Lasten des Epigouenthums. Der Hader geht darum, was feste Wurzel im Alten geschlagen, was neuer Lebenstrieb des Ererbten, was wirklich abgelebt und was zu neuem Leben berechtigt sei. Im Bedürfuiß «ach Reform sehlt der klare Blick, die kalte Entschlossenheit zur Revision. Beides kommt sicherlich, aber langsamer, unschein¬ barer als unter günstigeren Verhältnissen. Erst wenn das Abgethaue Staub

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/156>, abgerufen am 26.12.2024.