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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Oldenburger Zustände.
3.

Man hat den Stamm der Friesen, welche bekanntlich die Küsten der Nord¬
see von der Südersee an bis nach Holstein und Schleswig bewohnen, häufig mit
den Schweizern verglichen, und allerdings.findet sich auf beiden Seiten der gleiche
Unabhängigkeitssinn, so wie auch ein Land, das dem Vertheidiger große
Vortheile bietet, wodurch wiederum dieser Sinn Festigkeit erhielt Deun
wenn die Schweiz an ihren Alpen schwer zu überwindende Burgen besitzt, so
gewährt auch die Marsch mit ihren zahllosen Sieltiefen und Schleusen, wodurch
das Land leicht unter Wasser gesetzt werden kann, den Friesen ein treffliches
Bollwerk. Beide Völkerstämme haben vom dreizehnten bis zum sechzehnten
Jahrhundert der Fürstengewalt trotzig den tapfersten Widerstand geleistet, und
wenn auch die Friesen, welche durch die Natur ihres Landes minder begünstigt
waren, zuletzt erlagen, so haben ihnen die Fürsten den stolzen Nacken doch nnr
wenig gebeugt. Freiheit der Person und Freiheit des Eigenthums ging ihnen
nicht verloren, und ihr alter Spruch: "Lieber todt als Sclave" ward nicht
umgestoßen. Am bekanntesten ist der langjährige Kampf der Dithmarschen im
Westen Holsteins gegen die Grafen von Holstein und die Könige von Dänemark.
Unter den oldcnburger Friesen sind es die Stedinger, welche die glorreichsten
Thaten aufzuweisen haben. Stellt man aber die Frage, ob sich noch jetzt, wo
diese Landleute, im Gegensatze zu den Schweizern, längst nicht mehr wehrbar sind, die
Friesennatnr in ihrer alten Tüchtigkeit zeigt: so müssen wir in Bezug auf die olden¬
burger Marschbewohner Bedenken tragen, mit Ja zu antworte,,. Diese mit
Sachsen stark vermischten Friesen stehen den Geestbewohnern des Herzogthums an
körperlicher und sittlicher Tüchtigkeit nach, und zwar trifft dieser Tadel die butja-
dinger Marsch zumeist. Hier wird der vierte, ja sogar der dritte Theil der Wehr¬
pflichtigen als untauglich zurückgewiesen, während bei der Aushebung von 4 840
im Amte Steinfeld, der fruchtbarsten Gegend des oldenburgcr Münsterlandes, von
neunzehn nur Einer nicht mit löste. Die geringe Rüstigkeit der Butjadinger er-,
klärt sich einestheils aus deu in den Marschen herrschenden Fiebern, anderntheils aus
der Faulheit und Völlerei, wozu die außerordentliche Leichtigkeit des Erwerbs
verführt. Auch ist die Sterblichkeit in der Marsch so groß, daß die Bevölkerung
daselbst schwinden, statt wachsen würde, strömte nicht immer ein reicher Ersatz von
Gecstbewohnern nach, welche dnrch die höheren Löhne gelockt werden. Die
Bauern der Marsch zeichnen sich vor denen der Geest durch größere Beweglichkeit
des Geistes und höhere Bildung aus; nicht wenige von ihnen haben die Gymnasien
zu Oldenburg und Jever besucht, und man findet in ihrem Bücherschranke neben


Grenzboten. II. 18L2.
Oldenburger Zustände.
3.

Man hat den Stamm der Friesen, welche bekanntlich die Küsten der Nord¬
see von der Südersee an bis nach Holstein und Schleswig bewohnen, häufig mit
den Schweizern verglichen, und allerdings.findet sich auf beiden Seiten der gleiche
Unabhängigkeitssinn, so wie auch ein Land, das dem Vertheidiger große
Vortheile bietet, wodurch wiederum dieser Sinn Festigkeit erhielt Deun
wenn die Schweiz an ihren Alpen schwer zu überwindende Burgen besitzt, so
gewährt auch die Marsch mit ihren zahllosen Sieltiefen und Schleusen, wodurch
das Land leicht unter Wasser gesetzt werden kann, den Friesen ein treffliches
Bollwerk. Beide Völkerstämme haben vom dreizehnten bis zum sechzehnten
Jahrhundert der Fürstengewalt trotzig den tapfersten Widerstand geleistet, und
wenn auch die Friesen, welche durch die Natur ihres Landes minder begünstigt
waren, zuletzt erlagen, so haben ihnen die Fürsten den stolzen Nacken doch nnr
wenig gebeugt. Freiheit der Person und Freiheit des Eigenthums ging ihnen
nicht verloren, und ihr alter Spruch: „Lieber todt als Sclave" ward nicht
umgestoßen. Am bekanntesten ist der langjährige Kampf der Dithmarschen im
Westen Holsteins gegen die Grafen von Holstein und die Könige von Dänemark.
Unter den oldcnburger Friesen sind es die Stedinger, welche die glorreichsten
Thaten aufzuweisen haben. Stellt man aber die Frage, ob sich noch jetzt, wo
diese Landleute, im Gegensatze zu den Schweizern, längst nicht mehr wehrbar sind, die
Friesennatnr in ihrer alten Tüchtigkeit zeigt: so müssen wir in Bezug auf die olden¬
burger Marschbewohner Bedenken tragen, mit Ja zu antworte,,. Diese mit
Sachsen stark vermischten Friesen stehen den Geestbewohnern des Herzogthums an
körperlicher und sittlicher Tüchtigkeit nach, und zwar trifft dieser Tadel die butja-
dinger Marsch zumeist. Hier wird der vierte, ja sogar der dritte Theil der Wehr¬
pflichtigen als untauglich zurückgewiesen, während bei der Aushebung von 4 840
im Amte Steinfeld, der fruchtbarsten Gegend des oldenburgcr Münsterlandes, von
neunzehn nur Einer nicht mit löste. Die geringe Rüstigkeit der Butjadinger er-,
klärt sich einestheils aus deu in den Marschen herrschenden Fiebern, anderntheils aus
der Faulheit und Völlerei, wozu die außerordentliche Leichtigkeit des Erwerbs
verführt. Auch ist die Sterblichkeit in der Marsch so groß, daß die Bevölkerung
daselbst schwinden, statt wachsen würde, strömte nicht immer ein reicher Ersatz von
Gecstbewohnern nach, welche dnrch die höheren Löhne gelockt werden. Die
Bauern der Marsch zeichnen sich vor denen der Geest durch größere Beweglichkeit
des Geistes und höhere Bildung aus; nicht wenige von ihnen haben die Gymnasien
zu Oldenburg und Jever besucht, und man findet in ihrem Bücherschranke neben


Grenzboten. II. 18L2.
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[0421] Oldenburger Zustände. 3. Man hat den Stamm der Friesen, welche bekanntlich die Küsten der Nord¬ see von der Südersee an bis nach Holstein und Schleswig bewohnen, häufig mit den Schweizern verglichen, und allerdings.findet sich auf beiden Seiten der gleiche Unabhängigkeitssinn, so wie auch ein Land, das dem Vertheidiger große Vortheile bietet, wodurch wiederum dieser Sinn Festigkeit erhielt Deun wenn die Schweiz an ihren Alpen schwer zu überwindende Burgen besitzt, so gewährt auch die Marsch mit ihren zahllosen Sieltiefen und Schleusen, wodurch das Land leicht unter Wasser gesetzt werden kann, den Friesen ein treffliches Bollwerk. Beide Völkerstämme haben vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert der Fürstengewalt trotzig den tapfersten Widerstand geleistet, und wenn auch die Friesen, welche durch die Natur ihres Landes minder begünstigt waren, zuletzt erlagen, so haben ihnen die Fürsten den stolzen Nacken doch nnr wenig gebeugt. Freiheit der Person und Freiheit des Eigenthums ging ihnen nicht verloren, und ihr alter Spruch: „Lieber todt als Sclave" ward nicht umgestoßen. Am bekanntesten ist der langjährige Kampf der Dithmarschen im Westen Holsteins gegen die Grafen von Holstein und die Könige von Dänemark. Unter den oldcnburger Friesen sind es die Stedinger, welche die glorreichsten Thaten aufzuweisen haben. Stellt man aber die Frage, ob sich noch jetzt, wo diese Landleute, im Gegensatze zu den Schweizern, längst nicht mehr wehrbar sind, die Friesennatnr in ihrer alten Tüchtigkeit zeigt: so müssen wir in Bezug auf die olden¬ burger Marschbewohner Bedenken tragen, mit Ja zu antworte,,. Diese mit Sachsen stark vermischten Friesen stehen den Geestbewohnern des Herzogthums an körperlicher und sittlicher Tüchtigkeit nach, und zwar trifft dieser Tadel die butja- dinger Marsch zumeist. Hier wird der vierte, ja sogar der dritte Theil der Wehr¬ pflichtigen als untauglich zurückgewiesen, während bei der Aushebung von 4 840 im Amte Steinfeld, der fruchtbarsten Gegend des oldenburgcr Münsterlandes, von neunzehn nur Einer nicht mit löste. Die geringe Rüstigkeit der Butjadinger er-, klärt sich einestheils aus deu in den Marschen herrschenden Fiebern, anderntheils aus der Faulheit und Völlerei, wozu die außerordentliche Leichtigkeit des Erwerbs verführt. Auch ist die Sterblichkeit in der Marsch so groß, daß die Bevölkerung daselbst schwinden, statt wachsen würde, strömte nicht immer ein reicher Ersatz von Gecstbewohnern nach, welche dnrch die höheren Löhne gelockt werden. Die Bauern der Marsch zeichnen sich vor denen der Geest durch größere Beweglichkeit des Geistes und höhere Bildung aus; nicht wenige von ihnen haben die Gymnasien zu Oldenburg und Jever besucht, und man findet in ihrem Bücherschranke neben Grenzboten. II. 18L2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/421>, abgerufen am 24.07.2024.