Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.Die Reaction in der deutschen Poesie. Es läßt sich in der Entwickelung der Kunst ebensowenig wie in der politi¬ In der literarischen Entwickelung nun, in deren Mitte wir stehen, scheint Von den Vorzeichen einer allgemeinen und energischen Reaction gegen dieses Grenzboten. I. 1851. 3
Die Reaction in der deutschen Poesie. Es läßt sich in der Entwickelung der Kunst ebensowenig wie in der politi¬ In der literarischen Entwickelung nun, in deren Mitte wir stehen, scheint Von den Vorzeichen einer allgemeinen und energischen Reaction gegen dieses Grenzboten. I. 1851. 3
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91766"/> </div> <div n="1"> <head> Die Reaction in der deutschen Poesie.</head><lb/> <p xml:id="ID_48"> Es läßt sich in der Entwickelung der Kunst ebensowenig wie in der politi¬<lb/> schen Geschichte ein bestimmter Zeitpunkt angeben, in welchem ein neues Princip<lb/> sich gegen die Autorität des zuletzt herrschenden empört; im Gegentheil wird die<lb/> Reaction zugleich mit der Revolution geboren, und übt ihre Verneinung zuerst im<lb/> Einzelnen aus, bis sie zuletzt in voller Siegesgewißheit das Banner ihrer Fein¬<lb/> din in den Staub tritt. Und auch dann liebt sie es, sich mit den Feldzeichen<lb/> einer alten, längst überwundenen Autorität zu schmücken, und sich durch An¬<lb/> knüpfung an frühere, nicht mehr passende Verhältnisse darüber zu täuschen, daß<lb/> sie selber ein Neues, eine Revolution enthält. Daraus ist der anscheinende<lb/> Widerspruch zu erklären, daß der Gang der Politik wie der Literatur, wenn mau<lb/> ihn im Detail verfolgt, eine allmälige, sogenannte organische Entwickelung aus¬<lb/> zudrücken scheint, daß er dagegen, im Großen und Ganzen betrachtet, sich als<lb/> eine Reihe vou mehr oder minder gewaltsamen Revolutionen darstellt. Es ist<lb/> übrigens im Organischen nicht anders; allerdings kann man die Blumen nicht<lb/> eigentlich wachsen sehen, aber es kommt doch der Moment, wo das erste Blatt<lb/> ans der kahlen Winterrinde sich herausdrängt, oder wo die Knospe springt.</p><lb/> <p xml:id="ID_49"> In der literarischen Entwickelung nun, in deren Mitte wir stehen, scheint<lb/> sich, obgleich erst in kleinen Zügen angedeutet, eine Revolution vorzubereiten,<lb/> die mit dem Princip der absterbenden Periode vollkommen bricht: der Periode,<lb/> welche sich in Dentschland an Göthe, Schiller, Fichte, Schelling lehnt, in Frank¬<lb/> reich an Rousseau, die StaiU, in England an Byron, Shelley u. s. w.; einer<lb/> Periode, die mau im Gegensatz zu dem vorhergehenden Zeitalter der „Aufklä¬<lb/> rung" als die romantische zu bezeichnen pflegt, deren Inhalt man aber genauer<lb/> andeutet, wenn mau sie das Zeitalter des subjectiven Idealismus nennt.<lb/> Diesen Begriff zu motiviren, ist die Aufgabe der folgenden Zeilen.</p><lb/> <p xml:id="ID_50" next="#ID_51"> Von den Vorzeichen einer allgemeinen und energischen Reaction gegen dieses<lb/> Princip will ich hier nur einige andeuten. — Die Poesie, die vorher exclusiv<lb/> war, und um so mehr Poesie zu sein glaubte, je weniger ihr der Profane nahe<lb/> zu kommeu wagte, strebt jetzt nach Volkstümlichkeit; nicht mehr in dem<lb/> Sinn der „Aufklärung," wo man sich herablassen zu müssen glaubte, um dem<lb/> dünnnen Volk allmälig die Weisheit der studirten Leute beizubringen, sondern<lb/> umgekehrt, mit dem Trieb, zu lernen, aus eiuer uicht eingebildeten, sondern in<lb/> bestimmten, geschichtlichen Formen erscheinenden Natur neuen Lebenssaft für das<lb/> allzumatt pulsirende Blut der Kunst zu sangen. — Die Nutnrpoesie, welche<lb/> Berthold Auerbach, Jeremias Gotthelf und die gleichgestimmte» Schriftsteller den</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. I. 1851. 3</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
Die Reaction in der deutschen Poesie.
Es läßt sich in der Entwickelung der Kunst ebensowenig wie in der politi¬
schen Geschichte ein bestimmter Zeitpunkt angeben, in welchem ein neues Princip
sich gegen die Autorität des zuletzt herrschenden empört; im Gegentheil wird die
Reaction zugleich mit der Revolution geboren, und übt ihre Verneinung zuerst im
Einzelnen aus, bis sie zuletzt in voller Siegesgewißheit das Banner ihrer Fein¬
din in den Staub tritt. Und auch dann liebt sie es, sich mit den Feldzeichen
einer alten, längst überwundenen Autorität zu schmücken, und sich durch An¬
knüpfung an frühere, nicht mehr passende Verhältnisse darüber zu täuschen, daß
sie selber ein Neues, eine Revolution enthält. Daraus ist der anscheinende
Widerspruch zu erklären, daß der Gang der Politik wie der Literatur, wenn mau
ihn im Detail verfolgt, eine allmälige, sogenannte organische Entwickelung aus¬
zudrücken scheint, daß er dagegen, im Großen und Ganzen betrachtet, sich als
eine Reihe vou mehr oder minder gewaltsamen Revolutionen darstellt. Es ist
übrigens im Organischen nicht anders; allerdings kann man die Blumen nicht
eigentlich wachsen sehen, aber es kommt doch der Moment, wo das erste Blatt
ans der kahlen Winterrinde sich herausdrängt, oder wo die Knospe springt.
In der literarischen Entwickelung nun, in deren Mitte wir stehen, scheint
sich, obgleich erst in kleinen Zügen angedeutet, eine Revolution vorzubereiten,
die mit dem Princip der absterbenden Periode vollkommen bricht: der Periode,
welche sich in Dentschland an Göthe, Schiller, Fichte, Schelling lehnt, in Frank¬
reich an Rousseau, die StaiU, in England an Byron, Shelley u. s. w.; einer
Periode, die mau im Gegensatz zu dem vorhergehenden Zeitalter der „Aufklä¬
rung" als die romantische zu bezeichnen pflegt, deren Inhalt man aber genauer
andeutet, wenn mau sie das Zeitalter des subjectiven Idealismus nennt.
Diesen Begriff zu motiviren, ist die Aufgabe der folgenden Zeilen.
Von den Vorzeichen einer allgemeinen und energischen Reaction gegen dieses
Princip will ich hier nur einige andeuten. — Die Poesie, die vorher exclusiv
war, und um so mehr Poesie zu sein glaubte, je weniger ihr der Profane nahe
zu kommeu wagte, strebt jetzt nach Volkstümlichkeit; nicht mehr in dem
Sinn der „Aufklärung," wo man sich herablassen zu müssen glaubte, um dem
dünnnen Volk allmälig die Weisheit der studirten Leute beizubringen, sondern
umgekehrt, mit dem Trieb, zu lernen, aus eiuer uicht eingebildeten, sondern in
bestimmten, geschichtlichen Formen erscheinenden Natur neuen Lebenssaft für das
allzumatt pulsirende Blut der Kunst zu sangen. — Die Nutnrpoesie, welche
Berthold Auerbach, Jeremias Gotthelf und die gleichgestimmte» Schriftsteller den
Grenzboten. I. 1851. 3
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |