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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Dramaturgische Miscellen.*)
Clavigo von Goethe.

Heut zu Tage würde es wol uicht mehr recht an¬
gehen, einen Mann auf der Buhne umzubringen, der noch zweiunddreißig Jahre
lang lebte. Clavigo. den Goethe in seinem 1774 geschriebenen Stück von
Beaumarchais erstechen läßt, starb erst im Jahre 180K. -- Was das Stück selber
betrifft, so hat man es in der Regel zu gering angeschlagen; man war daran
gewohnt, jedes Drama, in welchem außer der sublnnanschen Welt nicht wenig¬
stens noch Himmel und Hölle auftrat, als unwürdig eiues großen Dichters anzu¬
sehen., Clavigo trägt allerdings einige Spuren schneller Arbeit an sich, und
verfällt zuweilen in einen novellistischen Ton, von dem es wenigstens fraglich ist,
wie weit er im Drama seine Berechtigung hat, dafür hat es aber auch einen
wirklich dramatischen Zug, deu wir bei deu meisten Dramen von Goethe ver¬
missen. Die Charaktere sind zwar skizzenhaft, aber doch sehr bestimmt gezeichnet,
in ihren Motiven ist nichts Unklares; die Fabel fügt sich bequem und geschmeidig
in die ideelle Anlage, und wir bewegen uns überall unter wirklichen Menschen,
die Jedermann versteht, uicht unter wunderlichen Originalen, zu deren Verständ¬
niß Localkenntniß nöthig ist. Allerdings ist Goethe auch in diesem Stück, wie in
Alm seinen Werken, durchaus subjectiv; er hat seine Doppelnatur in Clavigo und
Carlos zerlegt, wie in Tasso und Antonio, wie in Wilhelm Meister und Jarno,
wie in Faust und Mephistopheles u. s. w., auf der eiuen Seite der weiche bestimmbare
Idealist, auf der andern der nüchterne Verstandesmensch. Wenn wir in "Wahrheit
und Dichtung" die Reflexionen verfolgen, welche die Trennung von Lili motivir-
ten, so haben wir vollständig den Dialog zwischen Clavigo und Carlos, wenn
auch die Folgen nicht so ernster Natur waren. -- Außerdem hat zur Conception
der Figuren unstreitig die Emilia Galotti viel beigetragen, welche drei Jahre
vorher erschien. Der Prinz, Marinelli und Appiani sind die. Vorbilder für
Clavigo, Carlos und Beaumarchais. In Bezug aus die freie, natürliche Ent¬
faltung der Empfindungen haben wir aber bei Goethe die vollste Unmittelbarkeit,
während wir bei Lessing fortwährend an die Vermittelung durch Reflexion erinnert
werden. -- Was die Aufführung des Stücks betrifft, so stellen sich eigentlich alle
Verhältnisse so klar heraus, daß man ein Mißverständniß kaum für möglich halten
sollte; es ist aber doch durch manche bedeutende Schauspieler, namentlich durch
Seydclmaun, der im Carlos von den meisten der gegenwärtigen Schauspieler
copirt wird, ein falscher Accent hineingelegt worden, auf deu mau aufmerksam
machen muß. Seydelmann benutzte das Uebergewicht, welches Carlos durch seiue
geschlossene, oder uur nach einer Seite hin geöffnete Natur über deu von ver-



, Wir fahren fort, die interessanten Stücke alter und neuer Zeit, die in Leipzig auf¬
geführt werden, mit einigen Bemerkungen zu begleiten.
Dramaturgische Miscellen.*)
Clavigo von Goethe.

Heut zu Tage würde es wol uicht mehr recht an¬
gehen, einen Mann auf der Buhne umzubringen, der noch zweiunddreißig Jahre
lang lebte. Clavigo. den Goethe in seinem 1774 geschriebenen Stück von
Beaumarchais erstechen läßt, starb erst im Jahre 180K. — Was das Stück selber
betrifft, so hat man es in der Regel zu gering angeschlagen; man war daran
gewohnt, jedes Drama, in welchem außer der sublnnanschen Welt nicht wenig¬
stens noch Himmel und Hölle auftrat, als unwürdig eiues großen Dichters anzu¬
sehen., Clavigo trägt allerdings einige Spuren schneller Arbeit an sich, und
verfällt zuweilen in einen novellistischen Ton, von dem es wenigstens fraglich ist,
wie weit er im Drama seine Berechtigung hat, dafür hat es aber auch einen
wirklich dramatischen Zug, deu wir bei deu meisten Dramen von Goethe ver¬
missen. Die Charaktere sind zwar skizzenhaft, aber doch sehr bestimmt gezeichnet,
in ihren Motiven ist nichts Unklares; die Fabel fügt sich bequem und geschmeidig
in die ideelle Anlage, und wir bewegen uns überall unter wirklichen Menschen,
die Jedermann versteht, uicht unter wunderlichen Originalen, zu deren Verständ¬
niß Localkenntniß nöthig ist. Allerdings ist Goethe auch in diesem Stück, wie in
Alm seinen Werken, durchaus subjectiv; er hat seine Doppelnatur in Clavigo und
Carlos zerlegt, wie in Tasso und Antonio, wie in Wilhelm Meister und Jarno,
wie in Faust und Mephistopheles u. s. w., auf der eiuen Seite der weiche bestimmbare
Idealist, auf der andern der nüchterne Verstandesmensch. Wenn wir in „Wahrheit
und Dichtung" die Reflexionen verfolgen, welche die Trennung von Lili motivir-
ten, so haben wir vollständig den Dialog zwischen Clavigo und Carlos, wenn
auch die Folgen nicht so ernster Natur waren. — Außerdem hat zur Conception
der Figuren unstreitig die Emilia Galotti viel beigetragen, welche drei Jahre
vorher erschien. Der Prinz, Marinelli und Appiani sind die. Vorbilder für
Clavigo, Carlos und Beaumarchais. In Bezug aus die freie, natürliche Ent¬
faltung der Empfindungen haben wir aber bei Goethe die vollste Unmittelbarkeit,
während wir bei Lessing fortwährend an die Vermittelung durch Reflexion erinnert
werden. — Was die Aufführung des Stücks betrifft, so stellen sich eigentlich alle
Verhältnisse so klar heraus, daß man ein Mißverständniß kaum für möglich halten
sollte; es ist aber doch durch manche bedeutende Schauspieler, namentlich durch
Seydclmaun, der im Carlos von den meisten der gegenwärtigen Schauspieler
copirt wird, ein falscher Accent hineingelegt worden, auf deu mau aufmerksam
machen muß. Seydelmann benutzte das Uebergewicht, welches Carlos durch seiue
geschlossene, oder uur nach einer Seite hin geöffnete Natur über deu von ver-



, Wir fahren fort, die interessanten Stücke alter und neuer Zeit, die in Leipzig auf¬
geführt werden, mit einigen Bemerkungen zu begleiten.
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[0429] Dramaturgische Miscellen.*) Clavigo von Goethe. Heut zu Tage würde es wol uicht mehr recht an¬ gehen, einen Mann auf der Buhne umzubringen, der noch zweiunddreißig Jahre lang lebte. Clavigo. den Goethe in seinem 1774 geschriebenen Stück von Beaumarchais erstechen läßt, starb erst im Jahre 180K. — Was das Stück selber betrifft, so hat man es in der Regel zu gering angeschlagen; man war daran gewohnt, jedes Drama, in welchem außer der sublnnanschen Welt nicht wenig¬ stens noch Himmel und Hölle auftrat, als unwürdig eiues großen Dichters anzu¬ sehen., Clavigo trägt allerdings einige Spuren schneller Arbeit an sich, und verfällt zuweilen in einen novellistischen Ton, von dem es wenigstens fraglich ist, wie weit er im Drama seine Berechtigung hat, dafür hat es aber auch einen wirklich dramatischen Zug, deu wir bei deu meisten Dramen von Goethe ver¬ missen. Die Charaktere sind zwar skizzenhaft, aber doch sehr bestimmt gezeichnet, in ihren Motiven ist nichts Unklares; die Fabel fügt sich bequem und geschmeidig in die ideelle Anlage, und wir bewegen uns überall unter wirklichen Menschen, die Jedermann versteht, uicht unter wunderlichen Originalen, zu deren Verständ¬ niß Localkenntniß nöthig ist. Allerdings ist Goethe auch in diesem Stück, wie in Alm seinen Werken, durchaus subjectiv; er hat seine Doppelnatur in Clavigo und Carlos zerlegt, wie in Tasso und Antonio, wie in Wilhelm Meister und Jarno, wie in Faust und Mephistopheles u. s. w., auf der eiuen Seite der weiche bestimmbare Idealist, auf der andern der nüchterne Verstandesmensch. Wenn wir in „Wahrheit und Dichtung" die Reflexionen verfolgen, welche die Trennung von Lili motivir- ten, so haben wir vollständig den Dialog zwischen Clavigo und Carlos, wenn auch die Folgen nicht so ernster Natur waren. — Außerdem hat zur Conception der Figuren unstreitig die Emilia Galotti viel beigetragen, welche drei Jahre vorher erschien. Der Prinz, Marinelli und Appiani sind die. Vorbilder für Clavigo, Carlos und Beaumarchais. In Bezug aus die freie, natürliche Ent¬ faltung der Empfindungen haben wir aber bei Goethe die vollste Unmittelbarkeit, während wir bei Lessing fortwährend an die Vermittelung durch Reflexion erinnert werden. — Was die Aufführung des Stücks betrifft, so stellen sich eigentlich alle Verhältnisse so klar heraus, daß man ein Mißverständniß kaum für möglich halten sollte; es ist aber doch durch manche bedeutende Schauspieler, namentlich durch Seydclmaun, der im Carlos von den meisten der gegenwärtigen Schauspieler copirt wird, ein falscher Accent hineingelegt worden, auf deu mau aufmerksam machen muß. Seydelmann benutzte das Uebergewicht, welches Carlos durch seiue geschlossene, oder uur nach einer Seite hin geöffnete Natur über deu von ver- , Wir fahren fort, die interessanten Stücke alter und neuer Zeit, die in Leipzig auf¬ geführt werden, mit einigen Bemerkungen zu begleiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/429>, abgerufen am 27.06.2024.