Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.Lamartine's neueste Schriften. Es ist noch nicht lange her (1831. l, 6, Mg. 10ö -107), daß ich über Lamartine's neueste Schriften. Es ist noch nicht lange her (1831. l, 6, Mg. 10ö -107), daß ich über <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280404"/> </div> <div n="1"> <head> Lamartine's neueste Schriften.</head><lb/> <p xml:id="ID_858" next="#ID_859"> Es ist noch nicht lange her (1831. l, 6, Mg. 10ö -107), daß ich über<lb/> einige neuere Versuche der Muse des Herrn von Lamartine berichtet habe. Es<lb/> ist seit der Zeit Mehreres nachzutragen. Zuerst eine Dorfgeschichte (rv^ii, vil-<lb/> laxem«): Der Steinmetz von Saint Point (l.e ImNsur av ?ierres as<lb/> 8Amt-?vint), ein Versuch in demselben Styl, wie die Genevieve desselben<lb/> Verfassers. Herr v. Lamartine hat sich in die Vorstellung eingelebt, es gäbe bis<lb/> jetzt noch keine volkstümliche Dichtung, und er sieht, es als eine Pflicht an,<lb/> diesem Bedürfniß abzuhelfen. Abgesehen von dem historischen Irrthum, der in<lb/> dieser Vorstellung liegt, dürfte wol unter allen Menschen Niemand so wenig<lb/> geeignet sein, über das Volk und für das Volk zu schreiben, als Herr v. Lamar¬<lb/> tine. Popnlair ist nicht dasjenige Buch, welches sich mit dem Volke beschäftigt,,<lb/> sondern dasjenige, welches in einer zugleich klaren und energischen Sprache die<lb/> gesunden, allen Menschen gemeinen Empfindungen in Geschichten übersetzt. Der<lb/> Französische Romantiker hat keinen Begiss vom Volk, soviel er dasselbe auch<lb/> in seiner revolutionairen Thätigkeit haranguirt hat, weil er in seiner hohlen<lb/> Eitelkeit vor der objectiven Welt überhaupt Scheu hat, und sich nur in einem<lb/> Reich der Schatten wohlgefällt, welches von den Gebilden seiner Phantasie, d. h.<lb/> Von den Spiegelbildern seines eigenen Ich angefüllt ist. Da seine Einbildungs¬<lb/> kraft nicht eben sehr prvductiv ist, so wiederholen sich die Typen derselben in<lb/> allen möglichen Verkleidungen; zuerst werden sie lyrisch verarbeitet, dann treten<lb/> sie in einer Novelle auf, und zwar erst als Weib, und dann als Maun, dann wird<lb/> aus dieser Novelle ein Stück Selbstbiographie gemacht, aus dieser Selbstbiographie<lb/> wieder eine Novelle, die sich später zu einer Selbstkritik in dialogischer Form zu¬<lb/> spitzt, und aus diesen Selbstkritiken werden wieder! lyrische Gedichte. So bewegt<lb/> sich seine Phantasie in einem beständigen Kreislauf. Die Geueviöve, eine hinzu¬<lb/> erfundene Episode aus dem Jocelyn und den Memoiren, war wenigstens in ihrer<lb/> Anlage eine rührende Geschichte, obgleich sie durch den Schwulst der Darstellung<lb/> »ut die fortwährende Selbstbespiegelung, die daneben herging, völlig ungenießbar<lb/> gemacht wurde/ Der „Steinmetz" stellt dieselbe verkannte Aufopferung dar,<lb/> welche die Haupthandlung der Genevieve ausmacht. Cicade des Hnttes ist eine<lb/> von jenen Naturen, die in beständiger Selbstverläugnung und beständigen Opfern<lb/> leben. Er war die Stütze eines blinden Bruders, und nahm keinen Anstand, um<lb/> das Glück Desselben zu sichern, den Freuden einer erwiederten Liebe zu entsagen.<lb/> Nachdem er aus seiner Geliebten die Gefährtin des Blinden gemacht, suchte er<lb/> die Vergessenheit in einem arbeit- und mühevollen Leben. Allein die Gegenstände<lb/> seiner Zärtlichkeit sterben einer nach dem andern; er bleibt allein in seiner Hütte.<lb/> Der Kummer und die Einsamkeit begeistern ihn zu einer liebevollen Thätig-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0317]
Lamartine's neueste Schriften.
Es ist noch nicht lange her (1831. l, 6, Mg. 10ö -107), daß ich über
einige neuere Versuche der Muse des Herrn von Lamartine berichtet habe. Es
ist seit der Zeit Mehreres nachzutragen. Zuerst eine Dorfgeschichte (rv^ii, vil-
laxem«): Der Steinmetz von Saint Point (l.e ImNsur av ?ierres as
8Amt-?vint), ein Versuch in demselben Styl, wie die Genevieve desselben
Verfassers. Herr v. Lamartine hat sich in die Vorstellung eingelebt, es gäbe bis
jetzt noch keine volkstümliche Dichtung, und er sieht, es als eine Pflicht an,
diesem Bedürfniß abzuhelfen. Abgesehen von dem historischen Irrthum, der in
dieser Vorstellung liegt, dürfte wol unter allen Menschen Niemand so wenig
geeignet sein, über das Volk und für das Volk zu schreiben, als Herr v. Lamar¬
tine. Popnlair ist nicht dasjenige Buch, welches sich mit dem Volke beschäftigt,,
sondern dasjenige, welches in einer zugleich klaren und energischen Sprache die
gesunden, allen Menschen gemeinen Empfindungen in Geschichten übersetzt. Der
Französische Romantiker hat keinen Begiss vom Volk, soviel er dasselbe auch
in seiner revolutionairen Thätigkeit haranguirt hat, weil er in seiner hohlen
Eitelkeit vor der objectiven Welt überhaupt Scheu hat, und sich nur in einem
Reich der Schatten wohlgefällt, welches von den Gebilden seiner Phantasie, d. h.
Von den Spiegelbildern seines eigenen Ich angefüllt ist. Da seine Einbildungs¬
kraft nicht eben sehr prvductiv ist, so wiederholen sich die Typen derselben in
allen möglichen Verkleidungen; zuerst werden sie lyrisch verarbeitet, dann treten
sie in einer Novelle auf, und zwar erst als Weib, und dann als Maun, dann wird
aus dieser Novelle ein Stück Selbstbiographie gemacht, aus dieser Selbstbiographie
wieder eine Novelle, die sich später zu einer Selbstkritik in dialogischer Form zu¬
spitzt, und aus diesen Selbstkritiken werden wieder! lyrische Gedichte. So bewegt
sich seine Phantasie in einem beständigen Kreislauf. Die Geueviöve, eine hinzu¬
erfundene Episode aus dem Jocelyn und den Memoiren, war wenigstens in ihrer
Anlage eine rührende Geschichte, obgleich sie durch den Schwulst der Darstellung
»ut die fortwährende Selbstbespiegelung, die daneben herging, völlig ungenießbar
gemacht wurde/ Der „Steinmetz" stellt dieselbe verkannte Aufopferung dar,
welche die Haupthandlung der Genevieve ausmacht. Cicade des Hnttes ist eine
von jenen Naturen, die in beständiger Selbstverläugnung und beständigen Opfern
leben. Er war die Stütze eines blinden Bruders, und nahm keinen Anstand, um
das Glück Desselben zu sichern, den Freuden einer erwiederten Liebe zu entsagen.
Nachdem er aus seiner Geliebten die Gefährtin des Blinden gemacht, suchte er
die Vergessenheit in einem arbeit- und mühevollen Leben. Allein die Gegenstände
seiner Zärtlichkeit sterben einer nach dem andern; er bleibt allein in seiner Hütte.
Der Kummer und die Einsamkeit begeistern ihn zu einer liebevollen Thätig-
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