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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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ihn in jedem Augenblick als vollkommenen Edelmann austreten zu lassen. Es ist
das ein Zug von jener Poesie des Contrastes, auf welche, als auf das letzte
Resultat der romantischen Schule, wir im nächsten Kapitel übergehn.




Jacob Grimm's Geschichte der deutschen Sprache.



Im Jahre l819 erschien der erste Band der deutschen Grammatik von Jacob
Grimm, etwa 800 Seiten stark mit fast blinden Lettern, auf schlechteres als das
gewöhnliche Renner'sche Löschpapier gedruckt. Aber auch dies schien dem Verleger
noch sehr kostbar gewesen zu sein, denn was man sonst Seitenrand nennt, ist in
dem Buche kaum vorhanden. Vom obersten Anfange des Blattes bis knapp eine
Linie vor dem Ende wälzt sich die Fluth unendlicher Zeilen fort und verdeckt fast
ganz das freilich eben so graue Papier. Wo ja noch ein Räumchen leer bleibt,
droht dem armen Auge des Lesers noch größere Qual: vielzellige Anmerkungen,
deren Druck sich nur dadurch von dem Texte unterscheidet, daß dort die Lettern
halb so klein und die Zeilen halb so eng sind, wie hier.

Ans dem Jahre 1848 dagegen liegen zwei Bände größten Octavs in pracht¬
vollster -- wir armen Deutschen pflegen zu sagen -- wahrhaft englischer Aus¬
stattung vor mir, mit den größten und schärfsten Lettern auf milchweißes und
pergameutstarkes Papier fast mit Naumverschweudung gedruckt, die Geschichte der
deutschen Sprache von demselben Verfasser.

Der Bettelrock dort im Jahre 18U), und jetzt nach einem Menschenalter das
Prachtgewand, was soll dies anders heißen, als daß auch der Inhalt, dessen
Hülle sie bilden, unterdeß zu Ehren und Würden gekommen ist. Und wirklich
steht jetzt, hauptsächlich von dem Verfasser beider Bücher geschaffen, eine deutsche
Alterthumskunde ihren älteren Schwesterwissenschaften vollkommen ebenbürtig zur
Seite. Nach allen Richtungen hin greift sie in den Gang der wissenschaftlichen
Entwicklung ein: Jurisprudenz und Theologie werden von ihr in dem Maße mehr
berührt, als sie sich selber mehr und mehr aus Disciplinen zu Wissenschaften um¬
formen, und vor allem ist die Geschichtsforschung jetzt gar nicht mehr" ohne sie
denkbar.

Daß die Hauptresultate dieser neuen Wissenschaft noch wenig oder gar nicht
in die allgemeine Bildung der gegenwärtigen Generation übergegangen sind, ist
leider wahr. Damit geht es wie es in allen Wissenschaften von jeher gegangen "
ist. Alle möglichen Vorurtheile, Trägheit und Bequemlichkeit jeder Art verschließen
ihre Augen möglichst lange gegen den hellen Tag, und nicht genug, daß sie es


ihn in jedem Augenblick als vollkommenen Edelmann austreten zu lassen. Es ist
das ein Zug von jener Poesie des Contrastes, auf welche, als auf das letzte
Resultat der romantischen Schule, wir im nächsten Kapitel übergehn.




Jacob Grimm's Geschichte der deutschen Sprache.



Im Jahre l819 erschien der erste Band der deutschen Grammatik von Jacob
Grimm, etwa 800 Seiten stark mit fast blinden Lettern, auf schlechteres als das
gewöhnliche Renner'sche Löschpapier gedruckt. Aber auch dies schien dem Verleger
noch sehr kostbar gewesen zu sein, denn was man sonst Seitenrand nennt, ist in
dem Buche kaum vorhanden. Vom obersten Anfange des Blattes bis knapp eine
Linie vor dem Ende wälzt sich die Fluth unendlicher Zeilen fort und verdeckt fast
ganz das freilich eben so graue Papier. Wo ja noch ein Räumchen leer bleibt,
droht dem armen Auge des Lesers noch größere Qual: vielzellige Anmerkungen,
deren Druck sich nur dadurch von dem Texte unterscheidet, daß dort die Lettern
halb so klein und die Zeilen halb so eng sind, wie hier.

Ans dem Jahre 1848 dagegen liegen zwei Bände größten Octavs in pracht¬
vollster — wir armen Deutschen pflegen zu sagen — wahrhaft englischer Aus¬
stattung vor mir, mit den größten und schärfsten Lettern auf milchweißes und
pergameutstarkes Papier fast mit Naumverschweudung gedruckt, die Geschichte der
deutschen Sprache von demselben Verfasser.

Der Bettelrock dort im Jahre 18U), und jetzt nach einem Menschenalter das
Prachtgewand, was soll dies anders heißen, als daß auch der Inhalt, dessen
Hülle sie bilden, unterdeß zu Ehren und Würden gekommen ist. Und wirklich
steht jetzt, hauptsächlich von dem Verfasser beider Bücher geschaffen, eine deutsche
Alterthumskunde ihren älteren Schwesterwissenschaften vollkommen ebenbürtig zur
Seite. Nach allen Richtungen hin greift sie in den Gang der wissenschaftlichen
Entwicklung ein: Jurisprudenz und Theologie werden von ihr in dem Maße mehr
berührt, als sie sich selber mehr und mehr aus Disciplinen zu Wissenschaften um¬
formen, und vor allem ist die Geschichtsforschung jetzt gar nicht mehr" ohne sie
denkbar.

Daß die Hauptresultate dieser neuen Wissenschaft noch wenig oder gar nicht
in die allgemeine Bildung der gegenwärtigen Generation übergegangen sind, ist
leider wahr. Damit geht es wie es in allen Wissenschaften von jeher gegangen "
ist. Alle möglichen Vorurtheile, Trägheit und Bequemlichkeit jeder Art verschließen
ihre Augen möglichst lange gegen den hellen Tag, und nicht genug, daß sie es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/56>, abgerufen am 27.06.2024.