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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band.

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immer daran gelitten, daß es seinen Ursprung, die Reflexion, nicht verleugnen
konnte. Auch die Mävzpoeste hat bisher auf die Bedürfnisse des Publikums nur
speculirt; sie hat ihm Heldenthaten und Freiheitsgefühle vorgesetzt, weil diese
Waare gut ging. Zu einem Gedicht, welches das Volk dauernd mit sich fort¬
reißen soll, gehört mehr als diese Virtuosität in Mosaikarbeiten; nur der innere
Schwung der Seele führt im Sturm über die Hindernisse hinweg, welche der
klügelnde Verstand vergebens zu umgeben sucht. Wenn von der Flamme unserer
Revolution so viel Gluth in der Seele eiues oder des anderen unserer Dichter
zurückgeblieben ist, um die Conception einer großen Leidenschaft und eines großen
Schicksals nicht nur in der Reflexion, sondern in der Phantasie zu zeitigen, einerlei,
ob diese Leidenschaft sich auf Staatsangelegenheiten oder auf die innere Welt der
Seele bezieht, so wollen wir sie segnen, denn es ist mehr damit gewonnen, als
durch jahrelange Reden und Beschlüsse von einigen Dnjzend patriotischen Clubs.


I. S.


Neisetagebuch aus dem östreichische" Oberland^).



1. Die unschuldige Zyrene.

In der Sennhütte auf der Alm des SchafbergcS saßen wir, unser Sieben, in
später Mitternacht, rings um den Heerd. Die Weinflaschen waren versiegt, in
unserem Geplauder war eine Pause eingetreten, und die träumerische Stille, deren
Genuß uoch erhöht wurde durch die vom Heerd ausstrahlende Halbdnnkelbclench-
tnng, unterbrach Nichts als das leise Negenklopfen auf dem Dach, das laute
Athmen des Führers und der Sennerin, die schlummernd in der Ecke kauerten,
oder dann und wann, wenn die Kühe sich im Schlaf rührten, ein hastiges, schnell
wieder verstummendes Glockengetön aus dem anstoßenden Stalle. Endlich wurde
mein Freund, der weitgereiste Don Jsidor Amabile, daran erinnert, daß die Reihe
des Erzählens an ihm sei: er räusperte sich nicht lange, sondern hub gleich fol¬
gendermaßen an:

Im Jahre 184" war ich auf der Heimkehr aus dem südlichen Italien bis
nach Florenz zurückgelangt; die geselligen Kreise, in denen ich mich dort früher
zu bewegen Pflegte, waren zerstoben; Den hatte der Tod, Jenen der Sturm
der politischen Ereignisse fortgeweht. Mir würd' es einsam und unheimlich
in der reizenden Stadt; selbst die unsterbliche Schönheit der florentinischen



Neun Kapitel dieses Reisetagcbuchs erschienen im letzten Viertel des Jahrgang" 1849.

immer daran gelitten, daß es seinen Ursprung, die Reflexion, nicht verleugnen
konnte. Auch die Mävzpoeste hat bisher auf die Bedürfnisse des Publikums nur
speculirt; sie hat ihm Heldenthaten und Freiheitsgefühle vorgesetzt, weil diese
Waare gut ging. Zu einem Gedicht, welches das Volk dauernd mit sich fort¬
reißen soll, gehört mehr als diese Virtuosität in Mosaikarbeiten; nur der innere
Schwung der Seele führt im Sturm über die Hindernisse hinweg, welche der
klügelnde Verstand vergebens zu umgeben sucht. Wenn von der Flamme unserer
Revolution so viel Gluth in der Seele eiues oder des anderen unserer Dichter
zurückgeblieben ist, um die Conception einer großen Leidenschaft und eines großen
Schicksals nicht nur in der Reflexion, sondern in der Phantasie zu zeitigen, einerlei,
ob diese Leidenschaft sich auf Staatsangelegenheiten oder auf die innere Welt der
Seele bezieht, so wollen wir sie segnen, denn es ist mehr damit gewonnen, als
durch jahrelange Reden und Beschlüsse von einigen Dnjzend patriotischen Clubs.


I. S.


Neisetagebuch aus dem östreichische» Oberland^).



1. Die unschuldige Zyrene.

In der Sennhütte auf der Alm des SchafbergcS saßen wir, unser Sieben, in
später Mitternacht, rings um den Heerd. Die Weinflaschen waren versiegt, in
unserem Geplauder war eine Pause eingetreten, und die träumerische Stille, deren
Genuß uoch erhöht wurde durch die vom Heerd ausstrahlende Halbdnnkelbclench-
tnng, unterbrach Nichts als das leise Negenklopfen auf dem Dach, das laute
Athmen des Führers und der Sennerin, die schlummernd in der Ecke kauerten,
oder dann und wann, wenn die Kühe sich im Schlaf rührten, ein hastiges, schnell
wieder verstummendes Glockengetön aus dem anstoßenden Stalle. Endlich wurde
mein Freund, der weitgereiste Don Jsidor Amabile, daran erinnert, daß die Reihe
des Erzählens an ihm sei: er räusperte sich nicht lange, sondern hub gleich fol¬
gendermaßen an:

Im Jahre 184" war ich auf der Heimkehr aus dem südlichen Italien bis
nach Florenz zurückgelangt; die geselligen Kreise, in denen ich mich dort früher
zu bewegen Pflegte, waren zerstoben; Den hatte der Tod, Jenen der Sturm
der politischen Ereignisse fortgeweht. Mir würd' es einsam und unheimlich
in der reizenden Stadt; selbst die unsterbliche Schönheit der florentinischen



Neun Kapitel dieses Reisetagcbuchs erschienen im letzten Viertel des Jahrgang« 1849.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_92822/21>, abgerufen am 24.07.2024.