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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Studien zur Geschichte der französische!! Romantik.
Edgar Qninet und die romantische Kritik").



Vor einigen Wochen (Heft 11) gaben wir die Skizze eines Kritikers aus der
classischen Schule (Nisard); Edgar Quiuet, und dessen kritischen Studien
wir uns heute beschäftigen, gibt uns in dieser Sphäre fast ein eben so vollstän¬
diges Bild des romantischen Geistes, als Victor Hugo in der Dichtung, ob¬
gleich er fortwährend versichert, über den Gegensatz der Parteien hinaus z" sei".

Wenn wir die romantische Kritik dein Begriff uach von der classische" unter¬
scheiden, so denken wir keineswegs an eine unbedingte Billigung der eine" oder
der ander". Jede hat ihre Berechtigung in bestimmten Zeitpunkten. Eine nach
allen Seiten hin productive Zeit wnd eine strenge, von bestimmten Grundsätze"
ausgehende .Kritik erfordern, damit die Spreu von dem Weizen gesondert werde,
eine werdende Zeit dagegen setzt bei dem .Kritiker eine gewisse freie Empfänglich¬
keit , ein feines sinniges Verständniß des Schönen -- in welcher Form es anch er¬
scheine -- kurz, eine mehr weibliche Natur voraus. Die Franzose" des vorigen
Jahrhuttderts haben von einer romantischen Kritik nichts gewußt; die Engländer
nie, denn sie sind zu allen Zeiten hinlänglich productiv gewesen, und es ist bei
ihnen, seitdem überhaupt vou einer eigentlichen Literatur die Rede ist, nie ein so voll-
ständiger Bruch in dem Bewußtsein der Nation eingetreten, daß das Urtheil scho¬
nend hätte sei" müssen, wenn es nicht zum Unrecht werden sollte.

Wir Deutschen habe" uur deu Anlauf zu eiuer classischen, d. h. in ihren
Voraussetzungen wie in ihrer Methode bestimmten, strengen, gleichsam terroristi¬
schen Kritik gemacht. Ich rechne Lessing und Kant in diese Kategorie -- den
letzteren freilich mehr in Beziehung aus Urtheile im ethischen Gebiet, da das
Aesthetische ihm ferner lag. Die H erber, I e a u P a n l, Jac v bi, S es leget,
Schleiermacher, und im weitern Sinn auch Schiller und Hegel, uament-



*) Clowns"" el Ilalio. I'I,UosspI,jo öl poösio 1838. Gesammelte-Aufsätze aus den dreißiger
Jahren.
Greiizbotc". I. Ü85.0. <"
Studien zur Geschichte der französische!! Romantik.
Edgar Qninet und die romantische Kritik").



Vor einigen Wochen (Heft 11) gaben wir die Skizze eines Kritikers aus der
classischen Schule (Nisard); Edgar Quiuet, und dessen kritischen Studien
wir uns heute beschäftigen, gibt uns in dieser Sphäre fast ein eben so vollstän¬
diges Bild des romantischen Geistes, als Victor Hugo in der Dichtung, ob¬
gleich er fortwährend versichert, über den Gegensatz der Parteien hinaus z» sei».

Wenn wir die romantische Kritik dein Begriff uach von der classische» unter¬
scheiden, so denken wir keineswegs an eine unbedingte Billigung der eine» oder
der ander». Jede hat ihre Berechtigung in bestimmten Zeitpunkten. Eine nach
allen Seiten hin productive Zeit wnd eine strenge, von bestimmten Grundsätze»
ausgehende .Kritik erfordern, damit die Spreu von dem Weizen gesondert werde,
eine werdende Zeit dagegen setzt bei dem .Kritiker eine gewisse freie Empfänglich¬
keit , ein feines sinniges Verständniß des Schönen — in welcher Form es anch er¬
scheine — kurz, eine mehr weibliche Natur voraus. Die Franzose» des vorigen
Jahrhuttderts haben von einer romantischen Kritik nichts gewußt; die Engländer
nie, denn sie sind zu allen Zeiten hinlänglich productiv gewesen, und es ist bei
ihnen, seitdem überhaupt vou einer eigentlichen Literatur die Rede ist, nie ein so voll-
ständiger Bruch in dem Bewußtsein der Nation eingetreten, daß das Urtheil scho¬
nend hätte sei» müssen, wenn es nicht zum Unrecht werden sollte.

Wir Deutschen habe» uur deu Anlauf zu eiuer classischen, d. h. in ihren
Voraussetzungen wie in ihrer Methode bestimmten, strengen, gleichsam terroristi¬
schen Kritik gemacht. Ich rechne Lessing und Kant in diese Kategorie — den
letzteren freilich mehr in Beziehung aus Urtheile im ethischen Gebiet, da das
Aesthetische ihm ferner lag. Die H erber, I e a u P a n l, Jac v bi, S es leget,
Schleiermacher, und im weitern Sinn auch Schiller und Hegel, uament-



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[0049] Studien zur Geschichte der französische!! Romantik. Edgar Qninet und die romantische Kritik"). Vor einigen Wochen (Heft 11) gaben wir die Skizze eines Kritikers aus der classischen Schule (Nisard); Edgar Quiuet, und dessen kritischen Studien wir uns heute beschäftigen, gibt uns in dieser Sphäre fast ein eben so vollstän¬ diges Bild des romantischen Geistes, als Victor Hugo in der Dichtung, ob¬ gleich er fortwährend versichert, über den Gegensatz der Parteien hinaus z» sei». Wenn wir die romantische Kritik dein Begriff uach von der classische» unter¬ scheiden, so denken wir keineswegs an eine unbedingte Billigung der eine» oder der ander». Jede hat ihre Berechtigung in bestimmten Zeitpunkten. Eine nach allen Seiten hin productive Zeit wnd eine strenge, von bestimmten Grundsätze» ausgehende .Kritik erfordern, damit die Spreu von dem Weizen gesondert werde, eine werdende Zeit dagegen setzt bei dem .Kritiker eine gewisse freie Empfänglich¬ keit , ein feines sinniges Verständniß des Schönen — in welcher Form es anch er¬ scheine — kurz, eine mehr weibliche Natur voraus. Die Franzose» des vorigen Jahrhuttderts haben von einer romantischen Kritik nichts gewußt; die Engländer nie, denn sie sind zu allen Zeiten hinlänglich productiv gewesen, und es ist bei ihnen, seitdem überhaupt vou einer eigentlichen Literatur die Rede ist, nie ein so voll- ständiger Bruch in dem Bewußtsein der Nation eingetreten, daß das Urtheil scho¬ nend hätte sei» müssen, wenn es nicht zum Unrecht werden sollte. Wir Deutschen habe» uur deu Anlauf zu eiuer classischen, d. h. in ihren Voraussetzungen wie in ihrer Methode bestimmten, strengen, gleichsam terroristi¬ schen Kritik gemacht. Ich rechne Lessing und Kant in diese Kategorie — den letzteren freilich mehr in Beziehung aus Urtheile im ethischen Gebiet, da das Aesthetische ihm ferner lag. Die H erber, I e a u P a n l, Jac v bi, S es leget, Schleiermacher, und im weitern Sinn auch Schiller und Hegel, uament- *) Clowns»« el Ilalio. I'I,UosspI,jo öl poösio 1838. Gesammelte-Aufsätze aus den dreißiger Jahren. Greiizbotc». I. Ü85.0. <»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/49>, abgerufen am 29.06.2024.