Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Thatsache" kämpfen, um sie zu bessern, sie Glied für Glied angreifen und durch
eigne Thätigkeit dem Unrecht ein Terrain nach dein andern abgewinnen. Schafft
mir die Wirklichkeit aus den Augen! rufen sie. Stört mich nicht in meinen lieben
Träumen, laßt mich in Nuhe mein System vollenden! Auch der unbedeutendste
Socialist wird auf die Aufforderung, er solle doch selber etwas thun für die Ab¬
hilfe der Noth, mit bitterm Lächeln antworten: was würde das helfen? ich würde
meine Zeit unnütz vergeuden, ich brauche sie, die Frage aufzuklären. -- An Worten
fehlt es den Franzosen nicht; Predigt und Propaganda haben sie im Ueberfluß,
aber Zeugniß abzulegen, ist ihre Sache nicht. --

Man hat immer den Muth der Pariser gerühmt, ihren Eiser auf den Barri¬
kaden und um Straßenkampf. Mißtraut diesem Muth; er weiß nicht, waS der
Tod ist. Der Pariser hat nie das Mitleid gekannt. Der Arme verhungert in
seiner Dachswbe, ohne daß sich jemand darum kümmert; aber fällt er auf der
Straße nieder, so strömt ganz Paris zusammen. Wenn man dem Franzosen von
irgend einem Leiden erzählt, so wird er gerührt, er geräth in eine dramatische
Spannung, er vergißt, daß es sich um eine Realität handelt. So ist es mit dem
Tode. Er vermeidet ihn zu sehn, an ihn zu denken, er hat keine Vorstellung
davon. Er schlägt sich gut, trinkt Gift mit Aastand, hängt sich mit Bildung, er¬
stickt sich durch Kohlendampf mit Grazie, und springt ans eine zierliche Weise in
die Seine. Er macht keinen Ernst aus dem Tode. Er wirft sich, den Kopf
voran, in die Gefahr; wenn nur seine Nerven in Aufregung sind, wenn die Lei¬
denschaft ihn treibt; so wie man im hitzigen Fieber mit einem Eifer zum Fenster
herausstürzt, dem kein Muth gleichkommt. --

Der Franzose ist zu gesellig. Er lebt mehr das Leben seiner Nachbarn als
sein eigenes. Seine Demokratie entspringt aus seiner Geselligkeit. Es ist nicht
der gemeine Neid, es ist der Wunsch zu leben, wie er diejenigen leben sieht, die
auf einer höhern Stufe der Gesellschaft stehn. Ein Wettlauf auf einem Seil,
das nach einem Thurm gespannt ist. Dieser fieberhafte Wetteifer im Suchen des
Genusses, des Glückes und der Mittel, die dazu führen, hat seine Beziehungen
mit Haß erfüllt, seiue Sitten verbittert, sein Staatsleben aufgelöst.




Studien zur Geschichte der französischem Romantik.
Casimir Delavigne").

Ich nehme Delavigne ans zwei Gründen in diese Reihe auf: einmal des
Kontrastes wegen, weil man das Wesen der Romantik auch an ihrem Gegensatz


*) Geb. zu Havr- 17".j, -I- I8i". Erhielt für ein Gedicht: I)ve""vol-i<- M>, la vaovinv
schon 1ttI5 ein Amssit, und wurde in, Jahre 1825, in Felge seiner Keos"6nwnnu!i in die
Anibe"lie aufgenommen Die Reihenfolge seiner dramatischen Werke ist diese- l.of öl'^ruf

Thatsache» kämpfen, um sie zu bessern, sie Glied für Glied angreifen und durch
eigne Thätigkeit dem Unrecht ein Terrain nach dein andern abgewinnen. Schafft
mir die Wirklichkeit aus den Augen! rufen sie. Stört mich nicht in meinen lieben
Träumen, laßt mich in Nuhe mein System vollenden! Auch der unbedeutendste
Socialist wird auf die Aufforderung, er solle doch selber etwas thun für die Ab¬
hilfe der Noth, mit bitterm Lächeln antworten: was würde das helfen? ich würde
meine Zeit unnütz vergeuden, ich brauche sie, die Frage aufzuklären. — An Worten
fehlt es den Franzosen nicht; Predigt und Propaganda haben sie im Ueberfluß,
aber Zeugniß abzulegen, ist ihre Sache nicht. —

Man hat immer den Muth der Pariser gerühmt, ihren Eiser auf den Barri¬
kaden und um Straßenkampf. Mißtraut diesem Muth; er weiß nicht, waS der
Tod ist. Der Pariser hat nie das Mitleid gekannt. Der Arme verhungert in
seiner Dachswbe, ohne daß sich jemand darum kümmert; aber fällt er auf der
Straße nieder, so strömt ganz Paris zusammen. Wenn man dem Franzosen von
irgend einem Leiden erzählt, so wird er gerührt, er geräth in eine dramatische
Spannung, er vergißt, daß es sich um eine Realität handelt. So ist es mit dem
Tode. Er vermeidet ihn zu sehn, an ihn zu denken, er hat keine Vorstellung
davon. Er schlägt sich gut, trinkt Gift mit Aastand, hängt sich mit Bildung, er¬
stickt sich durch Kohlendampf mit Grazie, und springt ans eine zierliche Weise in
die Seine. Er macht keinen Ernst aus dem Tode. Er wirft sich, den Kopf
voran, in die Gefahr; wenn nur seine Nerven in Aufregung sind, wenn die Lei¬
denschaft ihn treibt; so wie man im hitzigen Fieber mit einem Eifer zum Fenster
herausstürzt, dem kein Muth gleichkommt. —

Der Franzose ist zu gesellig. Er lebt mehr das Leben seiner Nachbarn als
sein eigenes. Seine Demokratie entspringt aus seiner Geselligkeit. Es ist nicht
der gemeine Neid, es ist der Wunsch zu leben, wie er diejenigen leben sieht, die
auf einer höhern Stufe der Gesellschaft stehn. Ein Wettlauf auf einem Seil,
das nach einem Thurm gespannt ist. Dieser fieberhafte Wetteifer im Suchen des
Genusses, des Glückes und der Mittel, die dazu führen, hat seine Beziehungen
mit Haß erfüllt, seiue Sitten verbittert, sein Staatsleben aufgelöst.




Studien zur Geschichte der französischem Romantik.
Casimir Delavigne").

Ich nehme Delavigne ans zwei Gründen in diese Reihe auf: einmal des
Kontrastes wegen, weil man das Wesen der Romantik auch an ihrem Gegensatz


*) Geb. zu Havr- 17».j, -I- I8i». Erhielt für ein Gedicht: I)ve»»vol-i<- M>, la vaovinv
schon 1ttI5 ein Amssit, und wurde in, Jahre 1825, in Felge seiner Keos»6nwnnu!i in die
Anibe»lie aufgenommen Die Reihenfolge seiner dramatischen Werke ist diese- l.of öl'^ruf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185717"/>
          <p xml:id="ID_1446" prev="#ID_1445"> Thatsache» kämpfen, um sie zu bessern, sie Glied für Glied angreifen und durch<lb/>
eigne Thätigkeit dem Unrecht ein Terrain nach dein andern abgewinnen. Schafft<lb/>
mir die Wirklichkeit aus den Augen! rufen sie. Stört mich nicht in meinen lieben<lb/>
Träumen, laßt mich in Nuhe mein System vollenden! Auch der unbedeutendste<lb/>
Socialist wird auf die Aufforderung, er solle doch selber etwas thun für die Ab¬<lb/>
hilfe der Noth, mit bitterm Lächeln antworten: was würde das helfen? ich würde<lb/>
meine Zeit unnütz vergeuden, ich brauche sie, die Frage aufzuklären. &#x2014; An Worten<lb/>
fehlt es den Franzosen nicht; Predigt und Propaganda haben sie im Ueberfluß,<lb/>
aber Zeugniß abzulegen, ist ihre Sache nicht. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1447"> Man hat immer den Muth der Pariser gerühmt, ihren Eiser auf den Barri¬<lb/>
kaden und um Straßenkampf. Mißtraut diesem Muth; er weiß nicht, waS der<lb/>
Tod ist. Der Pariser hat nie das Mitleid gekannt. Der Arme verhungert in<lb/>
seiner Dachswbe, ohne daß sich jemand darum kümmert; aber fällt er auf der<lb/>
Straße nieder, so strömt ganz Paris zusammen. Wenn man dem Franzosen von<lb/>
irgend einem Leiden erzählt, so wird er gerührt, er geräth in eine dramatische<lb/>
Spannung, er vergißt, daß es sich um eine Realität handelt. So ist es mit dem<lb/>
Tode. Er vermeidet ihn zu sehn, an ihn zu denken, er hat keine Vorstellung<lb/>
davon. Er schlägt sich gut, trinkt Gift mit Aastand, hängt sich mit Bildung, er¬<lb/>
stickt sich durch Kohlendampf mit Grazie, und springt ans eine zierliche Weise in<lb/>
die Seine. Er macht keinen Ernst aus dem Tode. Er wirft sich, den Kopf<lb/>
voran, in die Gefahr; wenn nur seine Nerven in Aufregung sind, wenn die Lei¬<lb/>
denschaft ihn treibt; so wie man im hitzigen Fieber mit einem Eifer zum Fenster<lb/>
herausstürzt, dem kein Muth gleichkommt. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1448"> Der Franzose ist zu gesellig. Er lebt mehr das Leben seiner Nachbarn als<lb/>
sein eigenes. Seine Demokratie entspringt aus seiner Geselligkeit. Es ist nicht<lb/>
der gemeine Neid, es ist der Wunsch zu leben, wie er diejenigen leben sieht, die<lb/>
auf einer höhern Stufe der Gesellschaft stehn. Ein Wettlauf auf einem Seil,<lb/>
das nach einem Thurm gespannt ist. Dieser fieberhafte Wetteifer im Suchen des<lb/>
Genusses, des Glückes und der Mittel, die dazu führen, hat seine Beziehungen<lb/>
mit Haß erfüllt, seiue Sitten verbittert, sein Staatsleben aufgelöst.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Studien zur Geschichte der französischem Romantik.<lb/><note type="byline"> Casimir Delavigne").</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1449" next="#ID_1450"> Ich nehme Delavigne ans zwei Gründen in diese Reihe auf: einmal des<lb/>
Kontrastes wegen, weil man das Wesen der Romantik auch an ihrem Gegensatz</p><lb/>
          <note xml:id="FID_39" prev="#FID_38" place="foot" next="#FID_40"> *) Geb. zu Havr- 17».j, -I- I8i». Erhielt für ein Gedicht: I)ve»»vol-i&lt;- M&gt;, la vaovinv<lb/>
schon 1ttI5 ein Amssit, und wurde in, Jahre 1825, in Felge seiner Keos»6nwnnu!i in die<lb/>
Anibe»lie aufgenommen  Die Reihenfolge seiner dramatischen Werke ist diese-  l.of öl'^ruf</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0380] Thatsache» kämpfen, um sie zu bessern, sie Glied für Glied angreifen und durch eigne Thätigkeit dem Unrecht ein Terrain nach dein andern abgewinnen. Schafft mir die Wirklichkeit aus den Augen! rufen sie. Stört mich nicht in meinen lieben Träumen, laßt mich in Nuhe mein System vollenden! Auch der unbedeutendste Socialist wird auf die Aufforderung, er solle doch selber etwas thun für die Ab¬ hilfe der Noth, mit bitterm Lächeln antworten: was würde das helfen? ich würde meine Zeit unnütz vergeuden, ich brauche sie, die Frage aufzuklären. — An Worten fehlt es den Franzosen nicht; Predigt und Propaganda haben sie im Ueberfluß, aber Zeugniß abzulegen, ist ihre Sache nicht. — Man hat immer den Muth der Pariser gerühmt, ihren Eiser auf den Barri¬ kaden und um Straßenkampf. Mißtraut diesem Muth; er weiß nicht, waS der Tod ist. Der Pariser hat nie das Mitleid gekannt. Der Arme verhungert in seiner Dachswbe, ohne daß sich jemand darum kümmert; aber fällt er auf der Straße nieder, so strömt ganz Paris zusammen. Wenn man dem Franzosen von irgend einem Leiden erzählt, so wird er gerührt, er geräth in eine dramatische Spannung, er vergißt, daß es sich um eine Realität handelt. So ist es mit dem Tode. Er vermeidet ihn zu sehn, an ihn zu denken, er hat keine Vorstellung davon. Er schlägt sich gut, trinkt Gift mit Aastand, hängt sich mit Bildung, er¬ stickt sich durch Kohlendampf mit Grazie, und springt ans eine zierliche Weise in die Seine. Er macht keinen Ernst aus dem Tode. Er wirft sich, den Kopf voran, in die Gefahr; wenn nur seine Nerven in Aufregung sind, wenn die Lei¬ denschaft ihn treibt; so wie man im hitzigen Fieber mit einem Eifer zum Fenster herausstürzt, dem kein Muth gleichkommt. — Der Franzose ist zu gesellig. Er lebt mehr das Leben seiner Nachbarn als sein eigenes. Seine Demokratie entspringt aus seiner Geselligkeit. Es ist nicht der gemeine Neid, es ist der Wunsch zu leben, wie er diejenigen leben sieht, die auf einer höhern Stufe der Gesellschaft stehn. Ein Wettlauf auf einem Seil, das nach einem Thurm gespannt ist. Dieser fieberhafte Wetteifer im Suchen des Genusses, des Glückes und der Mittel, die dazu führen, hat seine Beziehungen mit Haß erfüllt, seiue Sitten verbittert, sein Staatsleben aufgelöst. Studien zur Geschichte der französischem Romantik. Casimir Delavigne"). Ich nehme Delavigne ans zwei Gründen in diese Reihe auf: einmal des Kontrastes wegen, weil man das Wesen der Romantik auch an ihrem Gegensatz *) Geb. zu Havr- 17».j, -I- I8i». Erhielt für ein Gedicht: I)ve»»vol-i<- M>, la vaovinv schon 1ttI5 ein Amssit, und wurde in, Jahre 1825, in Felge seiner Keos»6nwnnu!i in die Anibe»lie aufgenommen Die Reihenfolge seiner dramatischen Werke ist diese- l.of öl'^ruf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/380
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/380>, abgerufen am 29.06.2024.