Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Toussaint Louverture.
Draiua von Lamartine.

Der neue Versuch unsers Dichters in einem Genre, dein er bisher voll¬
ständig fremd geblieben ist, wurde in den ersten Tagen des April in der Porte
Se. Martin aufgeführt, einem Theater, das an blutige und rauschende Darstel¬
lungen gewohnt ist. (5in Paar Criuliualgeschichteu, Giftmischerei und andere
Mordthaten, auch ein Robespierre, waren ihm vorangegangen.

Beim Aufgang des Vorhangs sehen wir das Theater mit Siegern angefüllt;
eine unangenehme (Empfindung für einen, der gewohnt ist, die Physiognomie
zu beobachten und deu Ausdruck der Seele in den feinen Modulationen der
Züge zu lesen. Großes Ballet mit Gesang: es wird die Marseillaise der Schwarzen
vorgetragen und im Dialog commeiitirt. Der im Chor wiederholte Refrain ist
jedesmal das Signal zum Tanz. Die Schwarzen singen den Triumph des
unreinen Stammes, der Farbe, die bisher in Trauer gewesen ist, des Heiland
gewordenen Tyrannen. Aber mau solle menschlich sein und Verzeihung ausüben.

(5s sieht so aus, als ob die Sieger erst in demselben Augenblick ihre Frei¬
heit erfochten hätten. Sie sind aber schon seit zehn Jahren emancipirt, und der
Schlachtgesang der Freiheit tourne zu spät.

Nachdem das Ballet sich zerstreut hat, folgt eine Clegie. Adrieuue, eine
junge Mulattin, die Nichte des Befreiers und Dictators der Schwarzen, erzählt
in wehmüthigen Betrachtungen ihre Liebe zu Albert, dem Sohne Toussaint's, der
vor einigen Jahren mit seinem Bruder Isaac als Geißel mich Frankreich gebracht
ist und dort erzogen wird. (5in Liebesverhältniß, das ans alter Convenienz
eingeführt wird, und das zu der eigentlichen Cnitwickeluug des Dramas nichts
beiträgt.

Der erste Act ist also durchaus lyrischer Natur.

Im zweiten Act sehen wir Toussaint Lonverture von seinen Vertrauten um¬
geben. Mail sigualisirt die Ankunft einer französischen Flotte, die, geführt vom
General Leclere, den Auftrag hat, uicht, die Schwarzen wieder zu Sclaven zu
machen, souderu die Abhängigkeit Haity's voll Frankreich wiederherzustellen.
In wenig Stunden bat man die Landung zu erwarten. W handelt sich darum,
den Widerstand zu organisiren. Toussaint zögert nicht, er ist seit längerer Zeit
entschlossen. Seine Lieutenants nehmen seiue Befehle uutenvürfig auf, doch merkt
mau aus einigen bei Seite gesprochenen Worten, daß sie für ihren Anführer
keine unbedingte Hingebung fühlen, daß sie eisersüchtig auf seiue Größe sind
und seinem Ghrgeiz mißtraue". Der Dictator bleibt allein zurück und hält
einen ziemlich unpassenden Monolog. Cr wird weich und weint über die
Schmerzen seiner Mission; er zittert vor der ungeheuern Verantwortlichkeit, die
auf ihm lastet. Ke spricht mit einiger Uebertreibung von den Millionen Seelen,


Toussaint Louverture.
Draiua von Lamartine.

Der neue Versuch unsers Dichters in einem Genre, dein er bisher voll¬
ständig fremd geblieben ist, wurde in den ersten Tagen des April in der Porte
Se. Martin aufgeführt, einem Theater, das an blutige und rauschende Darstel¬
lungen gewohnt ist. (5in Paar Criuliualgeschichteu, Giftmischerei und andere
Mordthaten, auch ein Robespierre, waren ihm vorangegangen.

Beim Aufgang des Vorhangs sehen wir das Theater mit Siegern angefüllt;
eine unangenehme (Empfindung für einen, der gewohnt ist, die Physiognomie
zu beobachten und deu Ausdruck der Seele in den feinen Modulationen der
Züge zu lesen. Großes Ballet mit Gesang: es wird die Marseillaise der Schwarzen
vorgetragen und im Dialog commeiitirt. Der im Chor wiederholte Refrain ist
jedesmal das Signal zum Tanz. Die Schwarzen singen den Triumph des
unreinen Stammes, der Farbe, die bisher in Trauer gewesen ist, des Heiland
gewordenen Tyrannen. Aber mau solle menschlich sein und Verzeihung ausüben.

(5s sieht so aus, als ob die Sieger erst in demselben Augenblick ihre Frei¬
heit erfochten hätten. Sie sind aber schon seit zehn Jahren emancipirt, und der
Schlachtgesang der Freiheit tourne zu spät.

Nachdem das Ballet sich zerstreut hat, folgt eine Clegie. Adrieuue, eine
junge Mulattin, die Nichte des Befreiers und Dictators der Schwarzen, erzählt
in wehmüthigen Betrachtungen ihre Liebe zu Albert, dem Sohne Toussaint's, der
vor einigen Jahren mit seinem Bruder Isaac als Geißel mich Frankreich gebracht
ist und dort erzogen wird. (5in Liebesverhältniß, das ans alter Convenienz
eingeführt wird, und das zu der eigentlichen Cnitwickeluug des Dramas nichts
beiträgt.

Der erste Act ist also durchaus lyrischer Natur.

Im zweiten Act sehen wir Toussaint Lonverture von seinen Vertrauten um¬
geben. Mail sigualisirt die Ankunft einer französischen Flotte, die, geführt vom
General Leclere, den Auftrag hat, uicht, die Schwarzen wieder zu Sclaven zu
machen, souderu die Abhängigkeit Haity's voll Frankreich wiederherzustellen.
In wenig Stunden bat man die Landung zu erwarten. W handelt sich darum,
den Widerstand zu organisiren. Toussaint zögert nicht, er ist seit längerer Zeit
entschlossen. Seine Lieutenants nehmen seiue Befehle uutenvürfig auf, doch merkt
mau aus einigen bei Seite gesprochenen Worten, daß sie für ihren Anführer
keine unbedingte Hingebung fühlen, daß sie eisersüchtig auf seiue Größe sind
und seinem Ghrgeiz mißtraue». Der Dictator bleibt allein zurück und hält
einen ziemlich unpassenden Monolog. Cr wird weich und weint über die
Schmerzen seiner Mission; er zittert vor der ungeheuern Verantwortlichkeit, die
auf ihm lastet. Ke spricht mit einiger Uebertreibung von den Millionen Seelen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185632"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Toussaint Louverture.<lb/><note type="byline"> Draiua von Lamartine.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_1059"> Der neue Versuch unsers Dichters in einem Genre, dein er bisher voll¬<lb/>
ständig fremd geblieben ist, wurde in den ersten Tagen des April in der Porte<lb/>
Se. Martin aufgeführt, einem Theater, das an blutige und rauschende Darstel¬<lb/>
lungen gewohnt ist. (5in Paar Criuliualgeschichteu, Giftmischerei und andere<lb/>
Mordthaten, auch ein Robespierre, waren ihm vorangegangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1060"> Beim Aufgang des Vorhangs sehen wir das Theater mit Siegern angefüllt;<lb/>
eine unangenehme (Empfindung für einen, der gewohnt ist, die Physiognomie<lb/>
zu beobachten und deu Ausdruck der Seele in den feinen Modulationen der<lb/>
Züge zu lesen. Großes Ballet mit Gesang: es wird die Marseillaise der Schwarzen<lb/>
vorgetragen und im Dialog commeiitirt. Der im Chor wiederholte Refrain ist<lb/>
jedesmal das Signal zum Tanz. Die Schwarzen singen den Triumph des<lb/>
unreinen Stammes, der Farbe, die bisher in Trauer gewesen ist, des Heiland<lb/>
gewordenen Tyrannen.  Aber mau solle menschlich sein und Verzeihung ausüben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1061"> (5s sieht so aus, als ob die Sieger erst in demselben Augenblick ihre Frei¬<lb/>
heit erfochten hätten. Sie sind aber schon seit zehn Jahren emancipirt, und der<lb/>
Schlachtgesang der Freiheit tourne zu spät.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1062"> Nachdem das Ballet sich zerstreut hat, folgt eine Clegie. Adrieuue, eine<lb/>
junge Mulattin, die Nichte des Befreiers und Dictators der Schwarzen, erzählt<lb/>
in wehmüthigen Betrachtungen ihre Liebe zu Albert, dem Sohne Toussaint's, der<lb/>
vor einigen Jahren mit seinem Bruder Isaac als Geißel mich Frankreich gebracht<lb/>
ist und dort erzogen wird. (5in Liebesverhältniß, das ans alter Convenienz<lb/>
eingeführt wird, und das zu der eigentlichen Cnitwickeluug des Dramas nichts<lb/>
beiträgt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1063"> Der erste Act ist also durchaus lyrischer Natur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1064" next="#ID_1065"> Im zweiten Act sehen wir Toussaint Lonverture von seinen Vertrauten um¬<lb/>
geben. Mail sigualisirt die Ankunft einer französischen Flotte, die, geführt vom<lb/>
General Leclere, den Auftrag hat, uicht, die Schwarzen wieder zu Sclaven zu<lb/>
machen, souderu die Abhängigkeit Haity's voll Frankreich wiederherzustellen.<lb/>
In wenig Stunden bat man die Landung zu erwarten. W handelt sich darum,<lb/>
den Widerstand zu organisiren. Toussaint zögert nicht, er ist seit längerer Zeit<lb/>
entschlossen. Seine Lieutenants nehmen seiue Befehle uutenvürfig auf, doch merkt<lb/>
mau aus einigen bei Seite gesprochenen Worten, daß sie für ihren Anführer<lb/>
keine unbedingte Hingebung fühlen, daß sie eisersüchtig auf seiue Größe sind<lb/>
und seinem Ghrgeiz mißtraue». Der Dictator bleibt allein zurück und hält<lb/>
einen ziemlich unpassenden Monolog. Cr wird weich und weint über die<lb/>
Schmerzen seiner Mission; er zittert vor der ungeheuern Verantwortlichkeit, die<lb/>
auf ihm lastet.  Ke spricht mit einiger Uebertreibung von den Millionen Seelen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0295] Toussaint Louverture. Draiua von Lamartine. Der neue Versuch unsers Dichters in einem Genre, dein er bisher voll¬ ständig fremd geblieben ist, wurde in den ersten Tagen des April in der Porte Se. Martin aufgeführt, einem Theater, das an blutige und rauschende Darstel¬ lungen gewohnt ist. (5in Paar Criuliualgeschichteu, Giftmischerei und andere Mordthaten, auch ein Robespierre, waren ihm vorangegangen. Beim Aufgang des Vorhangs sehen wir das Theater mit Siegern angefüllt; eine unangenehme (Empfindung für einen, der gewohnt ist, die Physiognomie zu beobachten und deu Ausdruck der Seele in den feinen Modulationen der Züge zu lesen. Großes Ballet mit Gesang: es wird die Marseillaise der Schwarzen vorgetragen und im Dialog commeiitirt. Der im Chor wiederholte Refrain ist jedesmal das Signal zum Tanz. Die Schwarzen singen den Triumph des unreinen Stammes, der Farbe, die bisher in Trauer gewesen ist, des Heiland gewordenen Tyrannen. Aber mau solle menschlich sein und Verzeihung ausüben. (5s sieht so aus, als ob die Sieger erst in demselben Augenblick ihre Frei¬ heit erfochten hätten. Sie sind aber schon seit zehn Jahren emancipirt, und der Schlachtgesang der Freiheit tourne zu spät. Nachdem das Ballet sich zerstreut hat, folgt eine Clegie. Adrieuue, eine junge Mulattin, die Nichte des Befreiers und Dictators der Schwarzen, erzählt in wehmüthigen Betrachtungen ihre Liebe zu Albert, dem Sohne Toussaint's, der vor einigen Jahren mit seinem Bruder Isaac als Geißel mich Frankreich gebracht ist und dort erzogen wird. (5in Liebesverhältniß, das ans alter Convenienz eingeführt wird, und das zu der eigentlichen Cnitwickeluug des Dramas nichts beiträgt. Der erste Act ist also durchaus lyrischer Natur. Im zweiten Act sehen wir Toussaint Lonverture von seinen Vertrauten um¬ geben. Mail sigualisirt die Ankunft einer französischen Flotte, die, geführt vom General Leclere, den Auftrag hat, uicht, die Schwarzen wieder zu Sclaven zu machen, souderu die Abhängigkeit Haity's voll Frankreich wiederherzustellen. In wenig Stunden bat man die Landung zu erwarten. W handelt sich darum, den Widerstand zu organisiren. Toussaint zögert nicht, er ist seit längerer Zeit entschlossen. Seine Lieutenants nehmen seiue Befehle uutenvürfig auf, doch merkt mau aus einigen bei Seite gesprochenen Worten, daß sie für ihren Anführer keine unbedingte Hingebung fühlen, daß sie eisersüchtig auf seiue Größe sind und seinem Ghrgeiz mißtraue». Der Dictator bleibt allein zurück und hält einen ziemlich unpassenden Monolog. Cr wird weich und weint über die Schmerzen seiner Mission; er zittert vor der ungeheuern Verantwortlichkeit, die auf ihm lastet. Ke spricht mit einiger Uebertreibung von den Millionen Seelen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/295
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/295>, abgerufen am 22.07.2024.