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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Diplomatie über Petersburg einen, schwarzgesiegelten Brief mit der Anzeige vom
seligen Verscheiden der hohen Pforte und der Bitte um stilles Beileid. Lautes
Schreien, Weinen und Protestiren dürste dann wenig frommen. So scheint auch
unser Freund Punch in London zu deuten, der Mac Farlane's Buch kurz und
schlagend illustrirt hat. "Die Türkei und ihre Bestimmung." Ueber dein Wort
Türkei sieht man einen prachtvollen Truthahn (kullo^ heißt auch Truthahn) stol-
ziren, auf dem nächsten Bildchen über dem Wort "Bestimmung" sieht man ein
Speisetischcheu, darauf einen Teller, und aus diesem die gerupfte und gebratene
Leiche des padischahartigen Vogels. Ein dicker Herr, mit einer Serviette auf der
Brust, die Brille auf die Stirn hinausgeschoben, setzt das Messer an, um deu
Braten zu tranchiren. Es. ist eiuer, doch läßt sich uicht errathen, ob der
Gourmand ein Engländer oder ein Russe ist.




Ein französisches Urtheil aus dem Jahre t8"L über
die deutsche Einheit.



Es wird bei der gegenwärtigen Lage der Dinge von Interesse sein, das Ur¬
theil eines gebildeten Franzosen^) über die Ideen, welche unser Vaterland in den
letzten Jahren so mächtig bewegt haben, aus eiuer frühern Periode, ein Jahr nach
der Julirevolution, zu vergleichen. Wir theilen es im Auszug mit. -- "Wir
stellen uus Deutschland uoch immer in der Form vor, wie es uns Frau v. Staöl
geschildert hat: ein Laud der Exstase, ein beständiger Traum, eine Wissenschaft, die
stets im Suchen bleibt, ein Rausch der Theorie, der ganze Geist des Volkes in
die Idee des Unendlichen getaucht; in der Jugend romanhafte Sympathien, ein
uach allen Seiten hiu empfänglicher Enthusiasmus, eine altweltliche Donquixoterie,
dann die Selbstverleugnung des Pietismus, das Aufgeben des politischen Ein¬
flusses, die Befriedigung in einen: mystischen Wohlsein, beständiges Brüten der
religiösen Secten, wohlfeile Freuden, ein patriarchalisches Leben, Schicksale, die
geräuschlos dahiufließcu, wie die Wasser des Rheins oder der Donau; aber "ir¬
gend ein Mittelpunkt, nirgend ein gemeinsamer Wunsch, ein gemeinsamer Wille,
eine nationale Kraft. Leider hat das alles sich geändert. -- Die Reaction gegen
die Philosophie, die jetzt in Deutschland vorwaltet, stammt nicht ans einem Haß
der Principien an sich, sondern aus eiuer Art Furcht, uoch einmal dem Reiz des
beschaulichen Lebens zu verfallen. . . Die Erinnerung an 1814, das wohlthuende



*) Edgar Qninct, über den wir im vorigen Hefte berichteten.

Diplomatie über Petersburg einen, schwarzgesiegelten Brief mit der Anzeige vom
seligen Verscheiden der hohen Pforte und der Bitte um stilles Beileid. Lautes
Schreien, Weinen und Protestiren dürste dann wenig frommen. So scheint auch
unser Freund Punch in London zu deuten, der Mac Farlane's Buch kurz und
schlagend illustrirt hat. „Die Türkei und ihre Bestimmung." Ueber dein Wort
Türkei sieht man einen prachtvollen Truthahn (kullo^ heißt auch Truthahn) stol-
ziren, auf dem nächsten Bildchen über dem Wort „Bestimmung" sieht man ein
Speisetischcheu, darauf einen Teller, und aus diesem die gerupfte und gebratene
Leiche des padischahartigen Vogels. Ein dicker Herr, mit einer Serviette auf der
Brust, die Brille auf die Stirn hinausgeschoben, setzt das Messer an, um deu
Braten zu tranchiren. Es. ist eiuer, doch läßt sich uicht errathen, ob der
Gourmand ein Engländer oder ein Russe ist.




Ein französisches Urtheil aus dem Jahre t8»L über
die deutsche Einheit.



Es wird bei der gegenwärtigen Lage der Dinge von Interesse sein, das Ur¬
theil eines gebildeten Franzosen^) über die Ideen, welche unser Vaterland in den
letzten Jahren so mächtig bewegt haben, aus eiuer frühern Periode, ein Jahr nach
der Julirevolution, zu vergleichen. Wir theilen es im Auszug mit. — „Wir
stellen uus Deutschland uoch immer in der Form vor, wie es uns Frau v. Staöl
geschildert hat: ein Laud der Exstase, ein beständiger Traum, eine Wissenschaft, die
stets im Suchen bleibt, ein Rausch der Theorie, der ganze Geist des Volkes in
die Idee des Unendlichen getaucht; in der Jugend romanhafte Sympathien, ein
uach allen Seiten hiu empfänglicher Enthusiasmus, eine altweltliche Donquixoterie,
dann die Selbstverleugnung des Pietismus, das Aufgeben des politischen Ein¬
flusses, die Befriedigung in einen: mystischen Wohlsein, beständiges Brüten der
religiösen Secten, wohlfeile Freuden, ein patriarchalisches Leben, Schicksale, die
geräuschlos dahiufließcu, wie die Wasser des Rheins oder der Donau; aber »ir¬
gend ein Mittelpunkt, nirgend ein gemeinsamer Wunsch, ein gemeinsamer Wille,
eine nationale Kraft. Leider hat das alles sich geändert. — Die Reaction gegen
die Philosophie, die jetzt in Deutschland vorwaltet, stammt nicht ans einem Haß
der Principien an sich, sondern aus eiuer Art Furcht, uoch einmal dem Reiz des
beschaulichen Lebens zu verfallen. . . Die Erinnerung an 1814, das wohlthuende



*) Edgar Qninct, über den wir im vorigen Hefte berichteten.
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[0103] Diplomatie über Petersburg einen, schwarzgesiegelten Brief mit der Anzeige vom seligen Verscheiden der hohen Pforte und der Bitte um stilles Beileid. Lautes Schreien, Weinen und Protestiren dürste dann wenig frommen. So scheint auch unser Freund Punch in London zu deuten, der Mac Farlane's Buch kurz und schlagend illustrirt hat. „Die Türkei und ihre Bestimmung." Ueber dein Wort Türkei sieht man einen prachtvollen Truthahn (kullo^ heißt auch Truthahn) stol- ziren, auf dem nächsten Bildchen über dem Wort „Bestimmung" sieht man ein Speisetischcheu, darauf einen Teller, und aus diesem die gerupfte und gebratene Leiche des padischahartigen Vogels. Ein dicker Herr, mit einer Serviette auf der Brust, die Brille auf die Stirn hinausgeschoben, setzt das Messer an, um deu Braten zu tranchiren. Es. ist eiuer, doch läßt sich uicht errathen, ob der Gourmand ein Engländer oder ein Russe ist. Ein französisches Urtheil aus dem Jahre t8»L über die deutsche Einheit. Es wird bei der gegenwärtigen Lage der Dinge von Interesse sein, das Ur¬ theil eines gebildeten Franzosen^) über die Ideen, welche unser Vaterland in den letzten Jahren so mächtig bewegt haben, aus eiuer frühern Periode, ein Jahr nach der Julirevolution, zu vergleichen. Wir theilen es im Auszug mit. — „Wir stellen uus Deutschland uoch immer in der Form vor, wie es uns Frau v. Staöl geschildert hat: ein Laud der Exstase, ein beständiger Traum, eine Wissenschaft, die stets im Suchen bleibt, ein Rausch der Theorie, der ganze Geist des Volkes in die Idee des Unendlichen getaucht; in der Jugend romanhafte Sympathien, ein uach allen Seiten hiu empfänglicher Enthusiasmus, eine altweltliche Donquixoterie, dann die Selbstverleugnung des Pietismus, das Aufgeben des politischen Ein¬ flusses, die Befriedigung in einen: mystischen Wohlsein, beständiges Brüten der religiösen Secten, wohlfeile Freuden, ein patriarchalisches Leben, Schicksale, die geräuschlos dahiufließcu, wie die Wasser des Rheins oder der Donau; aber »ir¬ gend ein Mittelpunkt, nirgend ein gemeinsamer Wunsch, ein gemeinsamer Wille, eine nationale Kraft. Leider hat das alles sich geändert. — Die Reaction gegen die Philosophie, die jetzt in Deutschland vorwaltet, stammt nicht ans einem Haß der Principien an sich, sondern aus eiuer Art Furcht, uoch einmal dem Reiz des beschaulichen Lebens zu verfallen. . . Die Erinnerung an 1814, das wohlthuende *) Edgar Qninct, über den wir im vorigen Hefte berichteten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/103>, abgerufen am 22.07.2024.