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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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DolitiV und Militär w Franken.



Es ist höchst eigenthümlich, daß die beiden Centrallandschaften Deutschlands,
Thüringen und Franken, es niemals zu einer relativ kräftigen und selbstständigen
Staatsbildung bringen konnten. Rings umher sind im Verlaufe der Geschichte
Staaten, wie Sachsen, Hessen, Baiern und Würtemberg in die Höhe gewachsen,
Thüringen dagegen ist bis auf den heutigen Tag, soweit nicht der schwarze Aller
seine Fittige darüber gebreitet hat, in neun mikroskopische Groß- und Kleiuherzvg-
und Fürstentümer zerschnitten, und in Franken, wo zu den Zeiten des Reichs
drei gefürstete Bischöfe, einige Markgrafen, zwei Dutzend Reichsstädte, eine ent¬
sprechende Anzahl von Fürsten und Grafen, sammt einem unzähligen Gewimmel
freier des heiligen römischen Reiches Ritter dvmieilirtcn, ist seit dem Rhein¬
bund und dem Wiener Kongreß vollständige wbula rilsa gemacht. Mir Ausnahme
eines kleinen Gebietes, welches seit uralter Zeit politisch mit Thüringen verbinldcn
war -- das jetzige Großherzogthum Koburg -- ist das weite und schöne, von
zwei Millionen bewohnte Frankenland eine Pertinenz, eine Provinz des bairischen
"Reichs." --

Es scheint mir, als ließe sich die Nachwirkung jener innern Unfähigkeit zu festerer
Staatsbildung, woraus sich der Untergang der einstmals vorhandenen Staaten er¬
klärt, auch heute noch an dem politischen Leben oder richtiger dem politischen Tod
des Landes verspüren. Im eigentlichen Baiern, in den Grenzen des ehemaligen
Churfürstenthums der Wittelsbacher, politische Bildung zu suchen, fällt mir den
Münchner historisch-politischen Blättern ein, nud diese finden dort anch ihre
Bildung ohne die Laterne des Diogenes. Jeder andere Christenmensch, der sich
einigermaßen einen Begriff von der Entwicklungsgeschichte des altbairischen Staates
gebildet hat, verzichtet natürlich darauf, etwa so, wie er auch in Rußland darauf
verzichten würde. Dagegen dominirt in Altbaiern ein zähes particularistischcs
Bewußtsein, das sich bald an die Dynastie, bald an das specifisch bairische Pfaffen-
thnm, bald auch an die Selbstständigkeit und Großmächtigkeit des Staates oder
an alle drei zugleich anklammert. Sobald eine politische Frage bis zu der Masse
des Volkes dringt, wird sie sogleich unter diese Gesichtspunkte gebracht, und wenn
ihre Losung denn auch von dem Gegentheil von politischer Erkenntniß und Reife
zeugt, so zeugt sie doch von einem ausgeprägten politischen Charakter und einer
Lewisseu Energie, die sich nicht überall in Deutschland findet. In so fern, denke
kann man mit Recht von einem politischen Leben im eigentlichen Vaiern spre¬
chen, das freilich nach Gesetzen seine Functionen ausübt, mit denen das Volk


Gvenzbvtcu. IV. 1840. 47
DolitiV und Militär w Franken.



Es ist höchst eigenthümlich, daß die beiden Centrallandschaften Deutschlands,
Thüringen und Franken, es niemals zu einer relativ kräftigen und selbstständigen
Staatsbildung bringen konnten. Rings umher sind im Verlaufe der Geschichte
Staaten, wie Sachsen, Hessen, Baiern und Würtemberg in die Höhe gewachsen,
Thüringen dagegen ist bis auf den heutigen Tag, soweit nicht der schwarze Aller
seine Fittige darüber gebreitet hat, in neun mikroskopische Groß- und Kleiuherzvg-
und Fürstentümer zerschnitten, und in Franken, wo zu den Zeiten des Reichs
drei gefürstete Bischöfe, einige Markgrafen, zwei Dutzend Reichsstädte, eine ent¬
sprechende Anzahl von Fürsten und Grafen, sammt einem unzähligen Gewimmel
freier des heiligen römischen Reiches Ritter dvmieilirtcn, ist seit dem Rhein¬
bund und dem Wiener Kongreß vollständige wbula rilsa gemacht. Mir Ausnahme
eines kleinen Gebietes, welches seit uralter Zeit politisch mit Thüringen verbinldcn
war — das jetzige Großherzogthum Koburg — ist das weite und schöne, von
zwei Millionen bewohnte Frankenland eine Pertinenz, eine Provinz des bairischen
„Reichs." —

Es scheint mir, als ließe sich die Nachwirkung jener innern Unfähigkeit zu festerer
Staatsbildung, woraus sich der Untergang der einstmals vorhandenen Staaten er¬
klärt, auch heute noch an dem politischen Leben oder richtiger dem politischen Tod
des Landes verspüren. Im eigentlichen Baiern, in den Grenzen des ehemaligen
Churfürstenthums der Wittelsbacher, politische Bildung zu suchen, fällt mir den
Münchner historisch-politischen Blättern ein, nud diese finden dort anch ihre
Bildung ohne die Laterne des Diogenes. Jeder andere Christenmensch, der sich
einigermaßen einen Begriff von der Entwicklungsgeschichte des altbairischen Staates
gebildet hat, verzichtet natürlich darauf, etwa so, wie er auch in Rußland darauf
verzichten würde. Dagegen dominirt in Altbaiern ein zähes particularistischcs
Bewußtsein, das sich bald an die Dynastie, bald an das specifisch bairische Pfaffen-
thnm, bald auch an die Selbstständigkeit und Großmächtigkeit des Staates oder
an alle drei zugleich anklammert. Sobald eine politische Frage bis zu der Masse
des Volkes dringt, wird sie sogleich unter diese Gesichtspunkte gebracht, und wenn
ihre Losung denn auch von dem Gegentheil von politischer Erkenntniß und Reife
zeugt, so zeugt sie doch von einem ausgeprägten politischen Charakter und einer
Lewisseu Energie, die sich nicht überall in Deutschland findet. In so fern, denke
kann man mit Recht von einem politischen Leben im eigentlichen Vaiern spre¬
chen, das freilich nach Gesetzen seine Functionen ausübt, mit denen das Volk


Gvenzbvtcu. IV. 1840. 47
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[0372] DolitiV und Militär w Franken. Es ist höchst eigenthümlich, daß die beiden Centrallandschaften Deutschlands, Thüringen und Franken, es niemals zu einer relativ kräftigen und selbstständigen Staatsbildung bringen konnten. Rings umher sind im Verlaufe der Geschichte Staaten, wie Sachsen, Hessen, Baiern und Würtemberg in die Höhe gewachsen, Thüringen dagegen ist bis auf den heutigen Tag, soweit nicht der schwarze Aller seine Fittige darüber gebreitet hat, in neun mikroskopische Groß- und Kleiuherzvg- und Fürstentümer zerschnitten, und in Franken, wo zu den Zeiten des Reichs drei gefürstete Bischöfe, einige Markgrafen, zwei Dutzend Reichsstädte, eine ent¬ sprechende Anzahl von Fürsten und Grafen, sammt einem unzähligen Gewimmel freier des heiligen römischen Reiches Ritter dvmieilirtcn, ist seit dem Rhein¬ bund und dem Wiener Kongreß vollständige wbula rilsa gemacht. Mir Ausnahme eines kleinen Gebietes, welches seit uralter Zeit politisch mit Thüringen verbinldcn war — das jetzige Großherzogthum Koburg — ist das weite und schöne, von zwei Millionen bewohnte Frankenland eine Pertinenz, eine Provinz des bairischen „Reichs." — Es scheint mir, als ließe sich die Nachwirkung jener innern Unfähigkeit zu festerer Staatsbildung, woraus sich der Untergang der einstmals vorhandenen Staaten er¬ klärt, auch heute noch an dem politischen Leben oder richtiger dem politischen Tod des Landes verspüren. Im eigentlichen Baiern, in den Grenzen des ehemaligen Churfürstenthums der Wittelsbacher, politische Bildung zu suchen, fällt mir den Münchner historisch-politischen Blättern ein, nud diese finden dort anch ihre Bildung ohne die Laterne des Diogenes. Jeder andere Christenmensch, der sich einigermaßen einen Begriff von der Entwicklungsgeschichte des altbairischen Staates gebildet hat, verzichtet natürlich darauf, etwa so, wie er auch in Rußland darauf verzichten würde. Dagegen dominirt in Altbaiern ein zähes particularistischcs Bewußtsein, das sich bald an die Dynastie, bald an das specifisch bairische Pfaffen- thnm, bald auch an die Selbstständigkeit und Großmächtigkeit des Staates oder an alle drei zugleich anklammert. Sobald eine politische Frage bis zu der Masse des Volkes dringt, wird sie sogleich unter diese Gesichtspunkte gebracht, und wenn ihre Losung denn auch von dem Gegentheil von politischer Erkenntniß und Reife zeugt, so zeugt sie doch von einem ausgeprägten politischen Charakter und einer Lewisseu Energie, die sich nicht überall in Deutschland findet. In so fern, denke kann man mit Recht von einem politischen Leben im eigentlichen Vaiern spre¬ chen, das freilich nach Gesetzen seine Functionen ausübt, mit denen das Volk Gvenzbvtcu. IV. 1840. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/372>, abgerufen am 15.01.2025.